Liverpool auf der Leipziger Buchmesse: Die Schönheit der Stimme beim Lesen
Literatur will erobert werden. Wie man beim Zugang zum Buch hilft, zeigt das Projekt „The Reader“ aus Liverpool in Leipzig.
Donnerstagmorgen, Congress Center Leipzig. Die Sitze in dem kleinen Seminarraum im obersten Stock sind alle belegt, man muss Stühle hinzuholen. Vom Rummel der Buchmesse in den anderen Hallen ist dennoch wenig zu spüren. Ungewöhnlich auch der Anlass: Geht es doch nicht um bestimmte Bücher, Verlagsstrategien oder etwa digitale Entwicklungen, sondern ums Lesen, genauer gesagt, ums Vorlesen.
Vorlesen? Das klingt zunächst einmal recht lapidar. Doch hier wird das Projekt „The Reader“ aus Liverpool vorgestellt, eine Organisation, die sich dem Shared Reading verschrieben hat, dem „geteilten Lesen“. Kein Literaturkreis, keine Therapiemaßnahme, sondern, wie die nach Leipzig gereiste Gründerin Jane Davis in knappen Worten zusammenfasst: „Eine Gruppe von Menschen. Große Literatur wird laut gelesen. Die Menschen reagieren.“
Die Idee scheint sich von üblichen Lesegruppen nicht sonderlich zu unterscheiden. Doch die Macher von The Reader verfolgen nicht das Ziel, literaturinteressierte Bildungsbürger zu versammeln, sondern in erster Linie Menschen anzusprechen, die eigentlich gar nicht lesen. Oder vielleicht nicht einmal richtig lesen können.
Emotionale Bildung
Dass sich das Projekt, das, Ende der neunziger Jahre gegründet, heute 140 Mitarbeiter beschäftigt, in Leipzig als „Leserevolution“ präsentiert, verdankt sich dem vor Kurzem ins Leben gerufenen deutschen Ableger: Die beiden Literaturvermittler Thomas Böhm und Carsten Sommerfeldt waren nach einem Besuch in Liverpool von der Arbeit von The Reader so begeistert, dass sie beschlossen, eine Gruppe in Berlin zu gründen.
„Bei Lesekreisen ist der Text vorher schon bekannt“, so Böhm. Bei The Reader hingegen würden „spontane Eindrücke des Texts geteilt“. Was die Teilnehmer aber vor allem miteinander teilen würden, sei das Vorlesen: „Ihre Stimme wird Teil von der Schönheit der Sprache.“ Nach vier Tagen habe er sich gar nicht mehr vorstellen können, „nicht Teil davon zu sein“.
Geleitet werden die Gruppen von „Facilitators“, Vermittlern, die in der Regel über literarische Kenntnisse verfügen und bei den Texten eine Vorauswahl treffen. Für Jane Davis geht es dabei vor allem um „emotionale Bildung“. Sie veranschaulicht ihren Ansatz gern mit Anekdoten wie der von einer Frau aus ihrer ersten Gruppe, die in einer heruntergekommenen Vorortbibliothek in Liverpool begonnen hatte. Diese Frau habe ihr irgendwann gestanden, dass sie eine bipolare Störung habe und ihr in den 20 Jahren ihrer Erkrankung nichts so sehr geholfen habe wie diese Leseerfahrung. Sie habe sich sogar leicht scherzhaft beschwert, dass sie sich ein Bücherregal habe anschaffen müssen.
Lyrik in der Suchtphase
Die positiven Auswirkungen des Shared Reading lesen sich in der Tat wie ein Therapieprogramm: Bei Demenz, Geisteskrankheiten, Drogenmissbrauch, in Familienprogrammen und bei Bildungsmängeln werde die Arbeit von The Reader inzwischen eingesetzt. Ihr Angebot sei allerdings nicht von Anfang an auf Gegenliebe gestoßen, sagt Davis. Von manchem Klinikleiter bekam sie zu hören, die Patienten würden so etwas „nicht wollen“.
Tatsächlich sei Teilnehmer zu finden immer noch der schwierigste Teil ihrer Arbeit. Drogenabhängige zum Beispiel haben während ihrer Suchtphase ganz andere Probleme, als Gedichte in einer Gruppe vorzulesen. Aber wenn sie wieder clean waren, gingen einige schon mal von sich aus auf Jane Davis zu.
Eine Frage, die sich bei The Reader aufdrängt, ist, wie breit das Spektrum von Literatur ist, mit dem die Vermittler in ihre Gruppen gehen. Wird rein kanonische Literatur verwendet oder gibt es auch weniger ehrfurchteinflößende Stoffe? Phil Davis, Literaturwissenschaftler an der University of Liverpool und Ehemann von Jane Davis, erzählte, dass sie einmal Schmerzpatienten leicht lesbare zeitgenössische Romane angeboten haben, die Teilnehmer diese jedoch abgelehnt hätten. Sie seien von diesen Texten nicht ausreichend emotional bewegt oder geistig gefordert gewesen. Statt Trost wollten sie Literatur, um sich daran abzuarbeiten.
Denken fordern
Am Donnerstagnachmittag dann simulierte Jane Davis mit einer kleinen Gruppe von Messebesuchern ein Shared Reading. Ein gutes Dutzend Menschen saß im Kreis, um reihum ein Gedicht der US-amerikanischen Dichterin Denise Levertov zu lesen, „Variation on a Theme by Rilke“, und darüber zu sprechen. Die Versuchsbedingungen waren zwar verzerrt, da die Teilnehmer mehrheitlich literaturkundig waren, doch gelang das Experiment insofern, als keine literaturwissenschaftliche Debatte über die Zeilen entbrannte, sondern ausgiebig über die persönlichen Assoziationen und Gedanken gesprochen wurde.
Man hätte sich für die Runde durchaus vorstellen können, auch Gedichte aus dem jüngsten Band von Marion Poschmann, „Geliehene Landschaften“, zur Diskussion zu stellen. Poschmanns hochverdichtete Lyrik, mit der sie für den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Belletristik nominiert wurde, wäre in ihren verknappten Andeutungen eine geeignete Steilvorlage gewesen, auf die man als Leser reagieren muss, gegen alle Widerstände, die ein solcher Text beim Lesen bieten mag, insbesondere bei Menschen, die sonst nicht lesen.
An solche Leute richtet sich auch das Berliner Angebot von Thomas Böhm und Carsten Sommerfeldt. Wie Sommerfeldt berichtete, kämen zu ihren abendlichen Treffen zum Beispiel leseunerfahrene Programmierer, die sich von den für sie neuartigen Erfahrungen stark beeindruckt zeigten.
Dass es jenseits des Literaturbetriebs viele Menschen gibt, die nicht lesen, war selbstverständlich schon vorher bekannt. Dass man sie aber zum Lesen bewegen kann, ist allemal eine erfreuliche Nachricht.
Einen leichten Nachhall der therapeutischen Funktion des Lesens konnte man selbst noch am Abend beim traditionellen „Independence Dinner“ der unabhängigen Verlage im Leipziger Restaurant Chinabrenner spüren. Dort zitierte der Sponsor Christian Theiss von der österreichischen Druckerei Theiss in seiner kurzen Rede – ganz im Sinne von The Reader – den französischen Schriftsteller Philippe Djian mit den Worten: „Wenn es mir schlecht geht, gehe ich nicht in die Apotheke, sondern zu meinem Buchhändler.“
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