heute in Bremen: "Obacht, denke ich da"
BUCHVORSTELLUNG Der "Initiativkreis Stolpersteine" stellt seine Recherchen zur Östlichen Vorstadt vor
65, ist Politikwissenschaftlerin, Autorin und Filmemacherin. Bis vor Kurzem war sie Mitarbeiterin der Bremer Landeszentrale für Politische Bildung.
taz: Frau Johr, wie vieler Opfer des NS-Regimes wurde in Bremen bereits mit einem Stolperstein gedacht?
Barbara Johr: In Bremen wurden bisher 652 Stolpersteine verlegt.
Können Sie abschätzen, wie viele Steine in Bremen noch verlegt werden könnten?
In Bremen gab es über 1.500 NS-Opfer. Über 400 wurden Opfer der Euthanasie, gut 700 waren jüdische Opfer. Weitere gehörten unter anderem zu den politisch oder religiös Verfolgten. Noch nicht mal die Hälfte aller möglichen Steine sind also bisher verlegt worden, aber Vollständigkeit ist auch nicht das Ziel. Richtig abgeschlossen wird es nie sein. Es ist vielmehr exemplarisch. Wichtig ist die Qualität der Recherche und die Richtigkeit der Daten.
Das ganze Projekt wird heute rein ehrenamtlich getragen. Funktioniert das noch genauso gut wie mit Ihrer Koordinierung über die Landeszentrale für politische Bildung?
Die Arbeit des Ehrenamts klappt gut, weil die Mitglieder des Initiativkreises Stolpersteine Bremen intensiv dabei sind. Langfristig muss die Funktion der Projektleitung – angebunden an die Landeszentrale – aber wieder neu besetzt werden, wenn das Projekt Stolpersteine auch in Bremen in bisheriger Intensität und Qualität weitergeführt werden soll.
Wie lange kann das Projekt auf rein ehrenamtlicher Basis weitergeführt werden?
Die Publikationen werden schon immer vollständig ehrenamtlich erarbeitet. Die dahinterstehende Recherche bedeutet aber viel Arbeit. Seit September bin ich im Ruhestand, mein Kollege Michael Scherer geht auch bald in den Ruhestand. Die Frage der Nachfolge und damit auch der Zukunft des Projektes wird aktuell geprüft. Auf Dauer kann es allein ehrenamtlich nicht aufrecht erhalten werden.
War bei der Recherche für die Östliche Vorstadt, deren Ergebnisse Sie heute in Buchform vorstellen, ein Schicksal für Sie besonders herausstechend?
Besonders bewegend ist für mich der Kontakt mit den Nachkommen und Angehörigen, immer wieder. Die Tochter eines Opfers erzählte mir, ihre Mutter habe an einer Schwangerschaftspsychose gelitten und sei deshalb als Opfer der „Euthanasie“ ermordet worden. Sie sagte: „Wäre sie nicht mit mir schwanger gewesen, wäre sie nicht gestorben.“ Es gibt in Bremen Stolpersteine zur Erinnerung an Opfer unter den Homosexuellen. Die AfD fordert heute in Sachsen, zu erfassen, wie viele Schwule es dort gibt. Das erinnert an die Verfolgung unter dem NS-Regime. Obacht, denke ich mir da.
Interview: Ann-Kathrin Just
19.30 Uhr, Stadtbibliothek, Wall-Saal
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