Schorsch Kamerun über seine Biografie: „Wir lebten in Bleigummizellen“
Schorsch Kamerun, Sänger der Goldenen Zitronen und Theatermacher, über ein rasend schnelles Leben, das vielleicht sein eigenes ist.
Die Kellerkantine des Hamburger Schauspielhauses wirkt wie eine unzulässige Begrenzung, wenn man Schorsch Kamerun gegenübersitzt und ihm beim Denken zuhört, als performe er einen Stream of Consciousness. Er inszeniert hier gerade ein Stück. In Hamburg hat er auch die befreienden Momente einer Subkultur erfahren, die er maßgeblich mitgestaltete. Von ihr und anderen Dingen des Lebens erzählt er in seinem gerade erschienen Roman „Die Jugend ist die schönste Zeit des Lebens“.
taz: Herr Kamerun, laut Ihrem Buch sind Sie angeblich einer der 17 besten Menschen.
Schorsch Kamerun: Es handelt sich hier lediglich um die Eventisierung meiner Person.
Tommi from Germany, der Zweifler, und Schorsch Kamerun, einer der besten der Welt. Tommi, der Held in Ihrem Buch, ist sehr existenzialistisch angelegt, ich hatte einen ironischeren Helden erwartet.
Das gehört vielleicht ein bisschen zusammen – zu versuchen, über das jugendliche Nicht-Selbstbewusstsein, die Kleinheit, das gestörte Urvertrauen hinwegzukommen.
Also eine Taktik?
Überzeichnen ist immer eine Taktik. Und wenn dann alles super ist, ist nichts mehr super. Auch die Umstände nicht.
Schorsch Kamerun
Im Buch klingt oft ein Ideal der Avantgarden an, die Leben in Kunst und Kunst in Leben aufheben wollten. Verkörpert der Pudel-Klub in Hamburg eine solche Aufhebung?
Der Pudel scheint auf jeden Fall ein Sehnsuchtsort zu sein. Vielleicht geht es hier darum, sich mit einer Haltung zu verbinden, die eine seltene Klarheit hat.
Jetzt ist er abgebrannt.
Er steht noch. Der Brand fühlte sich nach Gewalt an. Wir fragen uns natürlich, wie die Brandstiftung gemeint war. War es gar ein Angriff auf unsere Werte? Der größte Leidtragende ist übrigens ein Flüchtling, der dort lebte. Der ist erst dadurch in die Öffentlichkeit geraten. Ihm droht jetzt die Abschiebung.
Tommi from Germany ist auf der Flucht vor den Erziehungsberechtigten, den Lehrern, den Ausbildern. Die Umgebung nimmt er wahr als ein bizarres Schützenfest in anzüglichen Partykellern.
Schorsch Kamerun ist seit 27 Jahren Sänger der Band "Die Goldenen Zitronen", er schreibt Stücke für das Theater und tritt darin selbst auf. Außerdem hat er zusammen mit Kollege Rocko Schamoni den Hamburger Szeneladen "Golden Pudel Klub" betrieben. Der Pudelclub wurde kürzlich angezündet.
Schorsch Kamerun: "Die Jugend ist die schönste Zeit des Lebens". Ullstein Verlag, Berlin 2016, 256 Seiten, 18 Euro
Daran sind in meiner Jugend wirklich viele zerbrochen. An Vätern, Sportlehrern, Kinderheimen, dem ganzen Dreck, dem repressiv Provinziellen, aus dem sie nicht rausgekommen sind. Wir lebten in Bleigummizellen.
Ihre Erzählung beginnt in der alten BRD der späten Siebziger und führt ins Heute. Trotz 68 hatten anfangs noch die steifen Krawattenkragen das Sagen. Ist es die Soldatenmatrix eines Helmut Schmidt, die die Jugend von Tommi prägt?
Ich glaube schon. Es gibt eine Weitergabe von Schrecken, Ängsten und Verlust. Das will ich auch in meinem Buch zeigen. Wir sahen den realen Nachhall der Weltkriege, die Kehlkopfmikrofone, die Amputierten. Und die Witwen. Das war nicht unsere Wirklichkeit, aber wir haben verstanden, wie das so weitergeht.
Wie?
Einige haben sich martialisch angezogen, Bomberjacken, Armyzeugs, Männlichkeitsgesten. Wir haben den Schuss nicht mehr gehört, aber den Rauch noch gerochen. Unser Phantomschmerz war viel stärker, als wir das begriffen haben. Wir hatten diese Leute noch ständig präsent. Auch einen Günter Grass etwa, dessen Schreibe fand ich richtig eklig. Ich habe mich nicht explizit für Nazideutschland verantwortlich fühlen können, aber mich als Deutscher allgemein geschämt. Für uns stand aber eher das preußisch Spießerhafte, dieses stammtischartige Autoritäre im Vordergrund. Das haben wir gehasst. Und das machte den Blick.
Welchen Blick?
Diesen verhuschten, schuldbewussten. Wir haben selber immer so komisch nach unten geguckt, uns geschämt. Uns war das nicht bewusst. Aber vielleicht haben wir uns auch schuldig gegenüber der Kriegsgeneration empfunden. Die haben doch zu uns gesagt: Leute, ihr müsst es erst einmal so beschissen haben wie wir.
Mir ist in Ihrem Buch die starke Diskrepanz aufgefallen, zwischen den gepflegten Vorgärten und der Tatsache, dass nun nicht mehr zu Hause gestorben wird.
Das war neu. Es gibt diese Leonard-Bernstein-Oper, „Trouble in Tahiti“. Die durfte ich mal inszenieren. Da schreibt Bernstein über einen Film, in dem sich jemand täglich so rausträumt. Ähnlich wie in Woody Allens Film „The Purple Rose of Cairo“. Auch dort will jemand aus diesem klemmigen Vorgarten raus. Bei uns war das ambivalente Gefühl in den 70ern voll da. Es gab diese Parallelwelten. Auf der einen Seite: leisten, schaffen, Ellbogen, die Konkurrenz aus dem Weg räumen. Und auf der anderen radikales Entgrenztsein. Ein fürchterlich frivoles Geficke und Gesaufe. Alles existierte gleichzeitig in den Bürgern. Und in jedem Ausdruck waren sie hilflos, sogar in den Farben. Aber vorne stand die Autorität, die Verdrängung. Alles war hart, alle eiskalt. Vielleicht glaubten die Erwachsenen, dass man das so gegeneinander stellen muss, den Verlust, den sie hatten. Den wir dann aber so gar nicht mehr hätten haben müssen.
Tommi hat ein Erweckungserlebnis im Kollektiven: „Wir werden nie wieder allein sein.“ Was war da passiert?
Er hat einen Ausdruck gefunden. Wir haben das Leben gemeint und uns als Bewegung empfunden. Wir meinten es ernst, wollten einen Gegenentwurf leben. Da war eine Menge gewünschter Nihilismus im Spiel, aber wir wollten auch eigene Strukturen schaffen. Das gab es danach so nicht wieder. „Grunge“ zum Beispiel hatte verstanden, dass es nicht wiederholbar ist. In Kurt Cobains Tagebüchern ist das gut ablesbar, sein nicht aushaltbarer Widerspruch.
Sie schreiben keine Heroengeschichte. Tommi wird im Buch eher zum „Experten für Schmerzempfindliches aller Art“. Alles, was dann kommt, ist irgendwie die Sublimierung des Schmerzes.
Weil es gehetzt ist. Die Sensibilität kommt aus der Biografie, von dem harten Zusammenstoß mit den Autoritäten. Es ging ständig darum, sich nicht brechen zu lassen. Wie es in einem unserer Zitronen-Songs heißt: „Dass ich immer nur weg will von euch, macht mein Leben zu schnell.“ Erlösung gibt es in der Geschichte nicht. Was in Ordnung ist. In der Kunst gibt es sie auch nicht. Unser Vorschlag ist bis heute das Gemeinsame. Ein Wunsch, eine Suche danach. Auch viele von uns haben sich über Narzissmen gezeigt, ich mag das aber nicht.
Die Freunde im Buch, hinter denen man Rocko Schamoni, Albert Oehlen und andere vermuten kann, sind Tommis „Spezialmenschen“, seine Rettung. Warum gibt er ihnen Tiernamen?
Vielleicht hat er Angst, etwas Falsches über sie zu sagen. Die Abstraktion macht die Dinge nicht so messbar. Ich muss das dann nicht zu sauber sagen. Kunst hat die Chance, im Fantastischen zu beschreiben. Man wünschte sich von mir, dass ich eine Biografie schreibe, in denen bekannte Leute vorkommen, denen ich begegnet bin. Das wollte ich aber vermeiden. Das Kleine ist genau so groß wie das Große und umgekehrt.
„Wild fremd“ ist das Gebot für Tommis Kunst.
Nicht nur. Auch für Thomas Sehl, den Verwandten mit dem Bürgernamen.
Jetzt sind Sie schon drei.
Mich macht es unglücklich, wenn das Fremde verschwindet. Überall werden letzte Andersartigkeiten ins Licht gezerrt. Die teuerste Kunst soll die wildeste sein. Und die radikalste landet am schnellsten im Museum oder im Privatfernsehen. Es ist doch wirklich interessant, wie wir in den 80ern aus unseren Rasenmähervorgärten losfuhren, nach Bilbao kamen und dachten: Wow, was für eine unbegradigte Welt. Heute ist das Nichtausgeleuchtete vielleicht noch in der Tiefsee zu finden.
Ist dieses Gefühl im Rückblick nicht Teil einer jeden Jugend? Ihr Buch heißt „Die Jugend ist die schönste Zeit des Lebens“?
Vielleicht. Aber es ist schwieriger geworden, weil die Räume heute schon so definiert sind. Wir hatten noch die Möglichkeit, jahrelang irgendwo zu sein und keine Sau hat sich darum gekümmert. Die Stilistiken waren noch unabgeglichen. Heute kann dich eine App zu den Off-Spaces bringen. Die sagt dir, was gerade das vermeintlich Verwegenste an der Urbanität ist. Die eigene Suche ist dahin, das Entdecken ist abgeschafft.
Tommi propagiert die Selbstentgrenzung. Was bedeutet es, wenn die nicht mehr so einfach möglich ist?
Dass man vielleicht zum IS geht? Oder in den Supereskapismus, da lässt sich aber nichts Progressives mehr herausschrauben. Das ist fatal. Wir sitzen hier und finden ja schon Angela Merkel dufte. Oder müssen plötzlich „die Demokratie“ retten.
Tommi kann am Ende des Buches an den Ort seiner Herkunft zurückkehren. Hat er sie besiegt?
Er kann mit ihr umgehen. Heißt das, man hat seinen Frieden damit gemacht? Ist das irgendwas, was in mir drinnen ist, Heimat oder so eine Scheiße? Heimat ist ja kein Ort mit Grenzen drumherum. Aber schon der Ort, an dem man die Gerüche kennt.
Vielleicht hat Tommi die Schuld besiegt und kann deshalb zurück. Schuld verhindert ja Entwicklung.
Schuld lässt aber auch superschnell werden – bei einigen. Meine Hoffnung ist schon, dass das Wegrennen ein Stück weit aufhört. Vielleicht kann man Schuld ja begehbar machen.
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