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Schuld ohne Sühne

Theater In Kiel inszeniert Ulrike Maack die deutschsprachige Erstaufführung von Simon Stephens Beziehungsdrama „Blindlings“. Die Verlegung des Medea-Stoffes ins Großbritannien der Thatcher-Ära gelingt nicht. Die Regisseurin lässt die Handlung dahinplätschern

Personal im Typenrealismus einer Boulevardkomödie: Die Medea-Dimension passt gar nicht zu Cathys (Jessica Ohl) und Johns (Felix Zimmer) obsessiver Beziehung   Foto: Theater Kiel

von Jens Fischer

Jedes Drama könnte in mythologischen Assoziationsräumen spielen – und jeder Dramatiker eine Figur der Antike in der sozialen Gegenwart reanimieren. Sofern es Sinn ergibt. Und klar, jede Frau hat die Chance, neben ihren Alltagsrollen die Medea auch noch zu spielen. Also das Leben der Liebe zu opfern, um dann dazu provoziert zu werden, die Pandorabüchse kreatürlicher Eifersucht zu öffnen, „Entsetzliches gestaltet sich in mir“ auszurufen – und die eigenen Kinder zu töten.

Die Ur-Medea ist durch eine traumatisierende Fluchtgeschichte gegangen, in einem demütigenden Asyldasein gefangen und von prinzesslichem Barbarenblute – ihr mörderischer Tabubruch aber kann auch ohne diese Voraussetzungen zum Ereignis werden.

Beispielsweise bei Cathy. Die hat sich Simon Stephens für sein Stück „Blindlings“ ausgedacht, das am Theater Kiel herauskam. Bekannt, beliebt und erfolgreich ist der Autor, da er mit brodelnd kurzen Szenen vom Alltag kleiner Leute große Wirkung zu erzielen weiß – präzise verdichteter Britpop-Naturalismus könnte der Stil genannt werden.

Cathy versucht er derart in seiner eigenen Kinderheimat zu verorten, im ehemaligen Bergbaukaff Stockport bei Manchester, an einem politischen Wendepunkt der jüngsten Geschichte: Das von Arbeitsniederlegungen gelähmte Land wählt 1979 eine eiserne Lady zum Aufräumen.

Poster im Hintergrund

Bühnenbildner Wilfried Minks illustriert das, indem er eines seiner Markenzeichen auf die Bühne platziert: ein riesiges Poster im Hintergrund – wie schon 1966 bei Peter Zadeks Bremer „Räuber“-Inszenierung. In Kiel ist ein Foto der Streikfolgen zu sehen, nämlich unentsorgte Müllberge – darüber erhebt sich drohend das Porträt Maggie Thatchers. Am rechten Bühnenrand prangt ein Plakat der Labour-Partei. Daneben sind schäbig mit Teppichmustern bemalte Spielgevierte fürs fragmentierte Leben aufgebaut sowie Betonwände und derart löchrige Rampen, dass ein Absprung, die Flucht in eine bessere Welt unmöglich scheint. Ein unbehaustes, charmefreies Gefängnis also – im Stück wird der Ort „pissig“ genannt. Ganz unten.

Mitten durch dieses prima Setting tobt also Cathy. Mit 16 schwanger geworden, macht sie sich nicht die Mühe, den Schwängerer in ihrem Sexpartner-wechsel-dich-Spiel herauszufinden. Ums Kind kümmert sich die Großmutter. Cathys Projekt heißt: bloß weg hier. Irgendwie den Schulabschluss machen. Vielleicht studieren. Auf alle Fälle heiraten. Einen mit Gewinneraura. John soll dies sein. Ein Buchhalterlehrling und Lebemann auf Kleinkriminellenniveau, den Felix Zimmer als lausig lustige Einbrecherratte spielt – charmierend verrucht die kerlige Erotik des gesetzlosen Streuners verströmend.

Während Jessica Ohl die Unsicherheit Cathys gekonnt hinter schrill-forschem Gehabe versteckt, eine herrlich prollige Schnodderschnauze mit lolitakecken Mädchengesten und augenklimpernder Strahlemimik gibt. Im Jungsaufreißen ist sie versiert. John lässt sich nicht lange bitten. Der schiebe nur die Hand ins Höschen, verspreche die Welt und verpisse sich wieder, warnt die Mutter. Cathy jedoch gefällt sich in ihrer Ich-würde-alles-für-ihn-tun-Haltung. Spürt aber auch dieses Nagen, die Angst, ihn wieder zu verlieren.

Unbändig sinnlos

So viel Feinzeichnung gestattet sich Regisseurin Ulrike Maack, gebürtige Soltauerin – erklären aber will sie nichts. Wie etwa das soziale Milieu und das gezeigte Verhalten zusammenhängen, was all das mit der behaupteten historischen Situation zu tun hat – wird nie verhandelt. Und der Kindesmord? Fanal gegen den Thatcherismus oder gesellschaftliche Degradierung, Wahnsinnsgeste des Widerstandes gegen patriarchale Mechanismen? Nein, nur eine harmlose theaterhistorische Anspielung auf Edward Bonds Sozialdrama „Gerettet“, in dem Gemütsasoziale unbändig sinnlos ein Baby im Kinderwagen steinigen.

Cathy hingegen ist einfach nur sauer, dass John sie mit ihrer besten Freundin betrügt. Weil er ihr Kind aber wie sein eigenes liebt, muss es sterben: Cathy wählt die Variante Ersticken im Kinderwagen als Mittel zum Rachezweck – aus der trotzigen Göre aber wird keine Furie, aus der Liebe keine Amour fou. Diese ganze Medea-Dimension passt einfach nicht zu Cathy.

Was Stephens auch irgendwie erkannt hat. Denn wie in der Euripides-Vorlage lässt er die Hintergangene der Nebenbuhlerin zwar ein Kleid schenken, das diese aber nun nicht mittels eingenähten Giftes tötet, sondern schlicht schmückt.

2014 war Stephens bereits an Hamburgs Deutschem Schauspielhaus mit einer zeitgenössischen Carmen gescheitert. Vergeblich nach Leidenschaftsfunken suchten in „Carmen Disruption“ einige verletzte und gedemütigte Großstadtjunkies in ihrem beschleunigten, von Erfolgssucht getriebenen Leben. Die Dialoge waren banal statt pointiert, der Bezug zum Mythos der Titelfigur nur arg oberflächlich. Genau wie jetzt bei Medea.

Erstaufführung als Lohn

Auch Maack konnte sie nicht retten. Dabei ist sie Stephens-affin, hat in Kiel bereits vier seiner Stücke inszeniert und nun als Lohn die deutschsprachige Erstaufführung von „Blindlings“ bekommen. Sie richtet das Personal im Typenrealismus einer Boulevardkomödie her, lässt die Handlung ohne Tragödien-Emphase dahinplätschern, findet keinen Zugriff, die Täterin als Opfer, das Unfassbare erschreckend begreiflich zu machen.

Richtig spannend wird es erst in den letzten beiden Szenen. Als historische Folie nutzt Stephens dort die Machtübernahme Tony Blairs. Soll wohl Hoffnung bedeuten. Jedenfalls treffen wir 1997 wieder auf Cathy, die als Mörderin gerade ihre Haftstrafe abgesessen hat und unter neuem Namen vor sich hin wartet. Bis ein Spross aus Johns zweiter Ehe hasserfüllt erscheint. Cathy habe seinen Vater zum psychischen Wrack gemacht, schreit er. Ist ihr egal. Sie will nur eine Berührung – vom Sohn an Vaters statt.

Und bekommt sie. Setzt ihr lebenslanges Abhängigkeitsverhältnis fort – mit Schuld verknotet, aber ohne Sühne-Schleifchen. Der Sohn beginnt, all das zu lockern. Mit Empathie zu lösen. Die beiden haben jetzt was zu erzählen, gemeinsam zu durchleben. Nun könnte das Stück beginnen. Aber es ist vorbei.

Fr, 19. 2., 20 Uhr, Theater Kiel. Weitere Aufführungen: 3. 3., 10. 3., 19. 3., 1. 4., 30. 4.

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