Manipulation von Russlanddeutschen: Katerstimmung in Marzahn
Im Berliner Bezirk Marzahn-Hellersdorf ist Russlands Propaganda besonders erfolgreich. Doch auch die NPD wittert Wählerstimmen.
Die goldbunten Bonbonpapierchen präsentieren Märchenszenen, schönere als die Programme der russischen Fernsehsender, die im Januar die Geschichte des entführten, mehrfach von „Asylanten“ vergewaltigten Mädchens Lisa aus diesem Bezirk erst erfanden und dann mit gefakten Beweisen würzten. Während damals in ganz Deutschland rund 10.000 Russlanddeutsche für „unsere Lisa“ und den Schutz ihrer Frauen und Kinder demonstrierten, bezichtigte Russlands Außenminister Lawrow die deutsche Polizei, Tatsachen zu vertuschen. Stattdessen hat nun die Berliner Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren gegen den russischen Journalisten eingeleitet.
„Und doch war etwas dran!“, ruft eine schmale Rentnerin. „Ich traue der deutschen Polizei nicht mehr!“, klagt sie hochemotional. Und den deutschen Medien auch nicht – denn ihren Namen möchte sie auf keinen Fall preisgeben. „Diese Gesetzlosigkeit in Russland, das war ein Grund herzukommen“, sagt sie. „Dass die Polizei in Deutschland höflich mit uns umging, war für uns neu. Da haben wir geglaubt: Hier ist wirklich etwas anders.“
Die Russin, mit einem Russlanddeutschen verheiratet, beamt sie sich souverän zwischen den Völkern hin und her: „Ich wollte dem Außenminister Lawrow Danke schön sagen für ‚unsere Lisa‘. Das hat er gemacht, nicht weil er die Russlanddeutschen als fünfte Kolonne benutzen will, sondern er sieht sie als ein Teil des Volkes.“
Die Jungen glotzen deutsch
Zwei Halbwüchsige streben der Truhe mit losen Sonnenblumenkernen zu und diskutieren auf Rapidmarzahnerisch. Die Brüder Witja und Wowa sind plus minus fünfzehn. „Lisa, nee interessiert uns nich“, sagen sie. „Wir machen Sport und sehn Sport: auf unsrer eignen Glotze, auf Deutsch! Unsre Eltern ham ihre, wenn se wat übersetzt brauchn, erledijen wer det.“ Wie fast alle Personen über 45 hier gucken die Eltern ausschließlich russische Kanäle.
Bis Mitte der 1990er Jahre galt Marzahn-Hellersdorf als Problembezirk. Nazi-Gruppierungen aus dem Umland griffen immer wieder russlanddeutsche Gangs an. Russischsprechende Kinder wagten nicht, sich auf dem S-Bahnhof laut zu unterhalten. In den folgenden Jahren beruhigte sich der Bezirk. Russlanddeutsche Eltern investieren in der Regel viel in eine gute Ausbildung ihrer Kinder. Die Plattenbauten wurden bunter, Wohnungen hier sind heute gefragt.
Doch was längst Vergangenheit war, scheint sich jetzt zu wiederholen. Die rechte Gewalt hat im Zuge der Flüchtlingskrise zugenommen. Laut Verfassungsschutz kam es seit Januar 2014 von allen Berliner Bezirken in Marzahn-Hellersdorf zu den meisten Anschlägen gegen Flüchtlingsheime – 29 auf 5 Unterkünfte. Jetzt sind es Flüchtlingskinder, die auf der Straße angegriffen werden.
Die NPD wirbt um sie
Die NPD spielt dabei eine zentrale Rolle. Die Demonstration am 23. Januar vor dem Kanzleramt gegen angeblich von Flüchtlingen ausgehende sexuelle Gewalt wurde von NPDlern besucht, eine Kundgebung vor dem Einkaufszentrum Eastgate von der NPD selbst veranstaltet. Die Partei wirbt verstärkt unter ihren Mitgliedern dafür, die Russlanddeutschen willkommen zu heißen.
Sind die Russlanddeutschen in Marzahn-Hellersdorf dabei, sich zu rechtsradikalisieren?
Diese Frage treibt auch eine antifaschistische Gruppe aus den Berliner Randbezirken um. Sie hat viel zu diesem Thema recherchiert, zwei Aktivisten finden sich schließlich zu einem konspirativen Treffen bereit.
„Russlanddeutsche waren erst seit Januar an Angriffen auf Flüchtlingsheime beteiligt – seit dem Fall Lisa“, ist das Ergebnis ihrer Recherche. Auf der Facebook-ähnlichen Seite Odnoklassniki.ru haben sie massenhaft auf Russisch untertitelte Karikaturen in „Stürmer“-Manier mit der Darstellung vergewaltigungsbereiter Flüchtlinge gefunden. Dazu Sprüche wie: „Wenn die eingeborenen Deutschen nicht einmal in der Lage sind, für sich selbst einzustehen, so sind unsere Landsleute sehr viel geschlossener und bereit, ihre Interessen zu verteidigen. Wir sind von klein auf dazu erzogen, Paroli zu bieten, wenn man uns schlägt. Und glaubt mir, die Geschichte mit Lisa ist nur der Anfang.“
Leicht zu mobilisieren
Eine besondere Gefahr erblicken die antifaschistischen Aktivisten in den hiesigen Russlanddeutschen jedoch nicht: „Entsprechende deutsche Seiten sehen genauso aus und zeigen – zynisch ausgedrückt –: Auch in dieser Hinsicht sind die Spätaussiedler bei uns gut integriert. Aber durch ihr hohes Stimmungspotenzial, die schnelle Verbreitung von Gerüchten unter ihnen, ihre hohe Bereitschaft, innerhalb der Community zu helfen, ihre guten Strukturen, lassen sie sich leicht in Bewegung setzen.“
Dass man die Russlanddeutschen jüngst auch in überregionalen Zeitungen als „Deutschrussen“ oder gar „Russen aus Marzahn“ bezeichnete, erbost Medina Schaubert. Sie selbst hat ihre russischen Freunde gern. Aber in ihrer Familie hat man immer deutsch gesprochen, wenn auch einen historischen schwäbischen Dialekt.
Vor ihrem Ökonomie-Studium machte die 29-Jährige eine Ausbildung als medizinisch-technische Assistentin. In diesem Beruf jobbt sie heute, denn die ehrenamtliche Tätigkeit frisst Zeit. Medina Schaubert ist stellvertretende Vorsitzende der Marzahner CDU und im Integrationsausschuss des Bezirks mit zuständig für die Flüchtlingsheime.
Als Russlanddeutsche deportiert
Warum CDU? „Wegen meiner christlichen Grundwerte“, erklärt sie. Ihr Urgroßvater sei in Russland evangelischer Pastor gewesen und wurde während der Stalin’schen Säuberungen 1937 erschossen, weil er seinem Glauben nicht abschwor. Als Stalin die Russlanddeutschen deportieren ließ, karrte man die Schauberts von der Krim nach Kasachstan – in Viehwaggons ohne Proviant. Einen Großonkel von Medina Schaubert fanden kasachische Hirten als Vierjährigen in der gefrorenen Steppe neben zwei Frauenleichen, seiner Mutter und Großmutter. Alle drei hatte man geschwächt aus dem Zug gekippt.
„Die Kasachen haben uns Lebensmittel gegeben, als sie fast selbst nichts hatten. Bei Familienfesten ließen wir sie immer hochleben“, erinnert sich Schaubert. Schon deshalb hege sie keine Vorurteile gegen fremd aussehende Menschen. Die Jungpolitikerin ist unterwegs zu ihrem Parteigenossen Alexander Reiser.
Hellersdorfs prominentester Russlanddeutscher ist Buddhist. Auch Reiser stammt aus einer rein deutschsprachigen Familie. Der Vater einer erwachsenen Tochter wohnt heute mit seiner russischen Ehefrau Oksana, einer Japanologin, und dem sahnefarbenen, plüschäugigen Yorkshireterrier Max in einem der Mehrfamilienhäuschen mit nur wenigen Stockwerken, die es in Marzahn-Hellersdorf neben den Plattenbauten auch gibt. Er fühlt sich mitten im Grünen und schaut beim Arbeiten gern in die Baumwipfel. In dem asiatisch angehauchten Interieur leuchtet eine goldene Buddha-Statue auf dem Regal.
Im permanenten Ausnahmezustand
Ohne seine Meditationsübungen hätte der 52-Jährige wohl den permanenten Ausnahmezustand der letzten Wochen nicht überlebt. Als Vorsitzender des Vereins Vision e. V., der sich um die Integration seiner Landsleute bemüht, hatte er auf der Demonstration „für unsere Lisa“ am 23. Januar am Kanzleramt dazu aufgerufen, die polizeiliche Untersuchung abzuwarten. Daraufhin „haben mich die Ordnungskräfte des Veranstalters aus der Menge gedrängt. Einige aufgebrachte Teilnehmer griffen mich dann am Rande der Kundgebung verbal an, ein ehemaliger Afghanistankämpfer geriet in Rage und drohte, mich mit einem Schlag ‚auszuschalten‘.“
Reiser, in der UdSSR unter anderem Matrose und Journalist, kam nach Deutschland um der Freiheit willen. Und benahm sich hier wie ein freier Mensch: „Es gab wilde Gerüchte: Wir bekämen fertige Häuschen hingestellt und Riesenrenten, obwohl wir doch keinen Tag in Deutschland gearbeitet hätten. Das war sehr verletzend. Aber ich hatte keinen Moment einen Zweifel: Dies hier ist mein Land und ich selbst werde dafür sorgen, hier heimisch zu werden.“
„Von den 700 Leuten bei der Demonstration vor dem Kanzleramt waren 400 einfach bloß da, weil sie sich persönlich für Lisa einbringen wollten“, meint Reiser. Doch er räumt ein, dass viele auch ihren sozialen Status durch die Flüchtlinge bedroht sehen. Den Sozialneid, den die Russlanddeutschen früher selbst zu spüren bekamen, richten sie jetzt gegen andere.
„Die meisten von ihnen gehören jetzt zum Mittelstand, sie haben sich ein Häuschen gebaut, gehören zu einer Kirchengemeinde und fürchten, dass durch die Flüchtlinge ihr bescheidenes, hart erarbeitetes Leben wieder in dem Chaos versinkt, das sie im Russland der 90er Jahre erfuhren.“
Reiser gehört einer WhatsApp-Gruppe von Russlanddeutschen an, die um die große Demo herum entstand. „Da herrscht heute großer Katzenjammer, viele fühlen sich von den russischen Medien hereingelegt“, versichert er. „Es wird noch lange dauern, bis dieser Dreck von uns abgetropft ist“, zitiert er eine Teilnehmerin. Eine andere schreibt: „Das konnte ich nur zusammen mit einer ganzen Tafel Schokolade runterschlucken.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!