piwik no script img

Die WahrheitDer heißeste deutsche Januar

Kolumne
von Arno Frank

Derzeit im Sonderangebot: Empörung, Empörung, Empörung. Und Wutanfälle, Wutanfälle, Wutanfälle. Affektkontrolle sieht anders aus.​

M it Wohlgefallen sehe ich meiner Siebenjährigen dabei zu, wie sie einen ihrer Wutanfälle bekommt. Derzeit greift sie schon beim kleinsten Anlass zur Popcorntüte. Großes Kino, rote Flecken im Gesicht, geballte Fäustchen und ein vorgeschobenes Kinn. Dann Gebrüll und Popcorn, das durch die Luft fliegt. Affektkontrolle sieht anders aus.

Wäre meine kleine Tochter nicht meine kleine Tochter, sondern das US-Militär, hätte sie wieder einmal Defcon 1 erreicht: maximale Einsatzbereitschaft, alle verfügbaren Truppen bewaffnet und unterwegs, nukleare Sprengköpfe knallklar. Und während ich noch einem Hagel aus Filly-Pferden und Lego-Steinen ausweiche, frage ich mich, woran dieser Ausbruch sinnloser Gewalt mich erinnert. Ach ja, richtig, die deutsche Öffentlichkeit in diesem wärmsten, womöglich erhitztesten Januar seit Beginn der Aufzeichnungen!

In „sozialen“ Netzwerken oder den Straßen, auf die das „Soziale“ dieser Netzwerke immer häufiger überläuft, scheint seit Monaten mindestens Defcon 2 erreicht. Wohin man auch schaut, es werden pausenlos Empörungsangebote unterbreitet. Ständig sollen wir uns entrüsten oder wenigstens Stellung beziehen, wozu wir uns auch ein wenig entrüsten müssen. Selbst wenn ich mich über die Allgegenwart der Empörungsangebote empöre, tappe ich schon in die Empörungsfalle. Es kann aber doch auch nicht alles egal sein, oder?

Und ist auch nicht alles empörungswürdig? Derzeit im Sonderangebot: Flüchtlinge. Aufregen soll ich mich beispielsweise über schmierige Drecksäcke in Köln, und wenn nicht über diese speziellen Antanztrottel, dann über männliche Übergriffigkeit generell oder die Generalisierung männlicher Zudringlichkeiten feministischerseits, wie’s beliebt.

Oder ich soll mich aufpeitschen lassen durch die Vergewaltigung einer 13-Jährigen, dann die Vertuschung dieser vermeintlichen Vergewaltigung, und wenn schon nicht durch die Vertuschung, so doch durch die Instrumentalisierung dieser nicht vertuschten Vergewaltigung durch die russische Regierung.

Ich muss mich zum Tod eines Flüchtlings in Berlin verhalten, dann zu den Umständen der Erfindung dieses Todes, zuletzt zum Verhalten der politisch Verantwortlichen.

Ich aber sage „Am Arsch!“ und greife, wie immer in brenzligen Situationen, nach der Bibel. „Eure Rede aber sei ja, ja; nein, nein“, wie in Matthäus 5:37 gefordert wird? Meine Rede sei eher: „Och nö!“ Denn siehe: „Ach, dass du kalt oder warm wärest! So, weil du lau bist und weder kalt noch warm, so werde ich dich ausspeien aus meinem Mund“ (Offenbarung).

Was will ich in seinem Mund? Eingespeichelt und zerkaut werden? Vielleicht ist es das Beste, ausgespuckt zu werden! Ich will nicht warm, also erhitzt sein. Ich will nicht kalt, also gleichgültig sein. Ich will ein Lob der Lauheit singen.

Klappt gut. Nur Trollen und anderen Gemütssiebenjährigen darf man nicht mit Indifferenz kommen. Für sie gilt weiterhin Defcon 1.

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!