Übergewicht

Kleinkinder werden weltweit immer dicker, warnt die WHO.
Vor allem in Entwicklungsländern nimmt der Trend zu. Was tun?

Die dicken Freunde der Lebensmittelindustrie

Alarm! Unser Nachwuchs verfettet. Wissenschaftler machen dafür ungesundes Essen und die mangelnde Bewegung verantwortlich – und aggressives Kindermarketing

Kunden fürs Leben: Marken, die wir aus der Kindheit kennen, sind uns emotional näher. Das wissen auch die Firmen Foto: Kate Sept/getty images

von Sunny Riedel

BERLIN taz | Wissenschaftler sind alarmiert, dass nicht nur die Anzahl übergewichtiger Kinder weltweit steigt, sondern auch das Ausmaß ihrer Fettleibigkeit. Das meldete die Kommission zur Beendigung von Adipositas bei Kindern (ECHO), die vor zwei Jahren von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) eingesetzt wurde, um den Trend zum Übergewicht bei Kleinkindern umzukehren. In ihrem am Montag in Genf veröffentlichten Abschlussbericht schreibt sie von derzeit 41 Millionen übergewichtigen oder gar fettleibigen Kindern unter 5 Jahren. Besonders in armen Staaten und Schwellenländern sei in den vergangenen 25 Jahren ein starker Anstieg zu beobachten gewesen, teilten die Wissenschaftler mit.

Wer als Kind besonders dick ist, der hat laut WHO die besten Chancen, auch als Erwachsener übergewichtig zu sein. Damit einher geht eine erhöhte Wahrscheinlichkeit, an einer ganzen Reihe physischer und psychischer Leiden zu erkranken, die bei Dicken häufiger auftreten als bei Normalgewichtigen. Von Diabetes, Bluthochdruck, Herzproblemen und Gefäßverkalkung bis hin zu psychosozialem Stress und Depressionen, beispielsweise durch soziale Ausgrenzung, reicht die Liste möglicher Erkrankungen.

In Afrika haben sich die Zahlen übergewichtiger Kinder der besagten Altersgruppe von 1990 bis 2014 nahezu verdoppelt – von 5,4 Millionen auf 10,3 Millionen. Den größten Anteil an Kindern über der Gewichtsnorm findet man laut Echo-Bericht aber in Asien. Fast die Hälfte aller übergewichtigen Kinder, 48 Prozent, kommt von dort.

Die WHO ruft daher Regierungen und Industrie zu Gegenmaßnahmen auf: eine wirksamen Besteuerung von zu­cker­haltigen Getränken oder Richtlinien für Schulen, um eine bessere Ernährung und körperliche Betätigung zu unterstützen. Die Staaten sollten verstärkt gegen den sich ausbreitenden Konsum von Fast Food vorgehen und gleichzeitig den Verzehr von gesunder Nahrung wie Gemüse und Obst fördern. Zudem sollten Kinder zu mehr Bewegung und Sport angehalten werden. Peter Gluckman von der Echo-Kommission betont: „Es ist nicht die Schuld der Kinder. Man kann ein zweijähriges Kind nicht verantwortlich dafür machen, fett und faul zu sein und zu viel zu essen.“

Ärzte sprechen bei Kindern und Jugendlichen von Übergewicht, wenn ihr Gewicht in Bezug zur Körpergröße oberhalb der sogenannten Perzentile von 90 liegt. Das bedeutet, dass 90 Prozent der Kinder im Verhältnis zu ihrer Größe leichter sind. Liegt das Gewicht oberhalb der 97. Perzentile, spricht man von Fettleibigkeit (Adipositas), über der 99.5-Perzentile von extremer Adipositas. Zu den Ursachen zählen körperliche Erkrankungen, falsche Ernährung, Bewegungsmangel, psychische Belastung.

Verantwortlich für die Zunahme sind nach Auffassung der Deutschen Adipositas Gesellschaft (DAG) mehrere Gründe. So hätten Kinder aus sozial schwachen Familien ein höheres Risiko, übergewichtig zu sein, als die aus einkommensstarken Familien. „Gesundes Essen ist einfach zu teuer und schlechtes Essen ist zu billig“, sagt DAG-Sprecherin und Vorstandsmitglied Stefanie Gerlach. Es müsse zudem Anreize geben, damit die Lebensmittelwirtschaft in ihren Rezepturen weniger Zucker, gesättigte Fette und Salz verwendet.

In Deutschland zeige sich zusätzlich ein starkes Gefälle je nach Region. „In strukturschwachen Gegenden ist das Risiko, übergewichtig zu werden, um rund ein Drittel höher.“ Zu viele Kinder schauten dann zum Beispiel fern, anstatt auf den Sportplatz zu gehen.

In vielen Staaten wird um die kleinsten Kunden aggressiv geworben. Eltern könnten der omnipräsenten Reklame für Süßigkeiten oft nichts entgegensetzen, sagte Gerlach. Sie sieht den Gesetzgeber stärker gefordert einzugreifen. „Wissenschaftliche Untersuchungen haben gezeigt, dass selbstverpflichtende Maßnahmen nicht wirksam sind. Das ‚verantwortungsvolle Kindermarketing‘, dessen sich die Industrie vielfach rühmt, ist eine Farce“.