: Üben für Europa
RADSPORT Bei der Tour de San Luis sorgt das kolumbianische Brüderpaar Quintana für Aufsehen. Aber auch andere südamerikanische Profis machen auf sich aufmerksam
aus san luis Tom Mustroph
Sehr euphorisch blickte Nairo Quintana am Sonntag nach dem Gesamtsieg seines kleinen Bruders Dayer Quintana bei der Tour de San Luis in Argentinien in die Zukunft: „Es ist ein Traum, bei einem Rennen wie der Tour de France einen Bruder an der Seite zu haben, der in ähnlich guter körperlicher Verfassung ist und mit dem man die Konkurrenz zermürben kann.“ Bei der Tour 2016 wird dieses Spiel aber noch nicht stattfinden. Der jüngere Bruder Dayer wird sich am Giro versuchen – als Lernender an der Seite vom nominellen Kapitän Alejandro Valverde. Nairo hingegen, zweifacher Tour-de-France-Zweiter und Gewinner des Giro d’Italia, wird die Tour noch ohne Familienunterstützung bestreiten.
Aber nicht nur die Kolumbianer trumpften bei der Rundfahrt in Argentinien auf. Neben fünf Männern aus dem Andenland waren auch ein Argentinier und ein Costa Ricaner unter den Top 10 der Gesamtwertung.
Das sind Früchte der Arbeit der vergangenen Jahre. Insbesondere die Tour de San Luis soll ganz ausdrücklich den Radsport Lateinamerikas in seiner ganzen Breite fördern. „Wir wollen lateinamerikanischen Fahrern die Möglichkeit geben, sich im Rennen mit den Weltstars aus Europa zu messen und so von ihnen zu lernen, dass sie selbst eines Tages in Europa fahren können“, erzählt Giovanni Lombardi der taz. Der Exprofi des Telekom-Rennstalls fungiert bei der Tour de San Luis als Koordinator für die europäischen Teams. Um dieses Ziel zu erreichen, werden Jahr für Jahr neben Profiteams wie Astana, Tinkoff und Movistar zahlreiche Nationalmannschaften aus dem Subkontinent eingeladen, in diesem Jahr Argentinien, Brasilien, Chile, Costa Rica, Kuba, Mexiko und Uruguay.
Kolumbien, anfangs auch mit einem Nationalteam dabei, braucht diese Hilfe nicht mehr. Die Gebrüder Quintana etwa wurden direkt von Movistar verpflichtet, Etappensieger Lopez von Astana. Auch hat sich die Infrastruktur so verbessert, dass man gleich kolumbianische Kontinentalteams einladen kann. Das im letzten Jahr gegründete Kontinentalteam Inteja aus der Dominikanischen Republik, das ebenfalls in San Luis antrat, ist ein Zeichen für einen Strukturwandel auch dort.
Vor allem aber ist für die Fahrer die Konkurrenz mit den Stars aus Europa ein großer Ansporn. „Es ist klasse, dass ich gegen Männer wie Peter Sagan, Vincenzo Nibali und Nairo Quintana fahren kann“, erzählt etwa der Chilene Marcos Arriagada. Der Argentinier Alfredo Lucero ergänzt: „Wir können uns von diesen Fahrern sehr viel abschauen, Details im Rennen, aber vor allem auch die gesamte Organisation, vom Material über das Essen bis hin zu den Massagen.“ Lucero und Arriagada schauten so gut ab, dass sie die Tour de San Luis sogar selbst gewinnen konnten, Lucero 2009, Arriagada 2011. Lucero war bei seinem Sieg noch Amateur, half damals noch halbtags seinem Vater auf dem Acker und hängte dann Profis wie Ivan Basso, den Giro d’Italia-Sieger von 2006, auf einem schwereren Rad mit Alurahmen ab, das er jeden Abend auch noch selber putzte. „Inzwischen haben wir besseres Material und auch Mechaniker“, lacht er.
Arriagada (40 Jahre) und Lucero (36) waren zur Zeit ihrer großen Erfolge zu alt für den Sprung nach Europa. „Das ist schwierig, wenn du Familie hast“, erklärt Lucero. Jüngere Fahrer wagen den Schritt aber. Dani Diaz etwa, Gesamtsieger 2013 und 2015. Der Argentinier fährt fest für den französischen Rennstall Delko Marseille. Als größten Unterschied zwischen den Kontinenten macht er den Rhythmus bei den Rennen aus. „In Europa wird auch im Flachen unglaublich viel Tempo gebolzt. Da bist du schon platt, bevor die Berge anfangen. In Südamerika hingegen geht man es ruhiger an, um dann in den Bergen ein Feuerwerk abzuliefern.“
Die Tour de San Luis hält er vom Rennrhythmus her für einen europäischen Wettbewerb. Gute Gelegenheit also für die vielen Nationalmannschaftsfahrer, auf dem eigenen Kontinent für den großen Profizirkus in Europa zu üben. Europäische Profis müssen demnächst mit stärkerer Konkurrenz nicht nur aus Kolumbien rechnen.
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