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RusslandAnziehung und Ablehnung

In Europa herrscht Sittenverfall, so sieht man es in Russland. Das prägt auch den Blick auf die Flüchtlingskrise

Klaus-Helge Donathaus Moskau

Russland ist nicht Europa, lautet die Doktrin, mit der sich Russlands Kultusministerium nach der Annexion der Krim vom alten Kontinent verabschiedete. Zugleich kündigte Moskau den Schwenk nach Asien an.

Schon immer ging Russland eigenwillig mit Europa um, das eher einer Projektionsfläche russischer Vorstellungen denn einem wirklichen Abbild glich. Das Verhältnis schwankt zwischen Anziehung und Ablehnung. So rigoros wie das Kultusministerium hatte bislang jedoch niemand Unverträglichkeit und Unvereinbarkeit fixiert. Die Kampfansage richtet sich gegen den emanzipatorischen Fortschritt in den europäischen Gesellschaften.

Im Februar hatten sich in Minsk unter europäischer Vermittlung Russland und die Ukraine auf einen Waffenstillstand geeinigt. Für Irina, die ihren Nachnamen nicht veröffentlicht wissen will, stellte die Übereinkunft bereits ein Zeichen russischer Schwäche dar. „Wir wollen nicht so leben wie im Westen“, sagt sie. Russland sei berufen, die Welt zu Moral und Sitte zurückzuführen. Man muss wissen: Irina ist Betriebswirtin und Frau eines Oligarchen, die in Russland und der Ukraine zu Hause ist.

Irinas Welt besteht aus Verschwörungstheorien. Vor allem der Umgang mit Homosexualität und Sexualerziehung an deutschen Schulen, so wie russische Medien es darstellen, verunsichert sie. Dass diese Berichte Teil der hybriden russischen Kriegsführung sind, lässt sie nicht gelten. Sie will an die europäische Lasterhaftigkeit glauben wie Millionen ihrer Mitbürger, die jedoch im Unterschied zu Irinas Familie in Europa weder Villa noch Jacht besitzen.

Laut dem unabhängigen Moskauer Meinungsforschungsinstituts Lewada-Zentrum nehmen 40 Prozent der Russen Europa als eine andere Zivilisation wahr, in der andere Regeln gelten und die Menschen sich anders verhalten. Aufhorchen lässt: Fast 59 Prozent halten Russland für kein europäisches Land. Obwohl viele Russen in den vergangenen 25 Jahren Europa bereisen konnten, blieb es für sie doch etwas Fremdes.

Das war Europa 2015 – der Blick unserer KorrespondentInnen

Europa: Was für ein Jahr: In Griechenland spielte ein monatelanger Krimi um die neue Linksregierung, Währungskrise und Verhandlungen mit der Troika. Paris musste zwei islamistische Terroranschläge erleben. Und vor allem beschäftigten uns Menschen, die von jenseits des Mittelmeers nach Europa kommen. Der Umgang mit dieser „Flüchtlingskrise“ entzweite auch die Mitglieder der EU.

Sichtweise: Wie schaute die Welt auf Europa in diesem Krisenjahr? Wir haben die taz-Auslandskorrespondenten in China, Russland, Südamerika, den USA und Westafrika gebeten, mit der Brille ihres Berichtsgebiets auf 2015 zurückzublicken. Welches Bild wurde dort von Europa gezeichnet? Welche Nachrichten spielten eine besondere Rolle, welche gar keine? Was bewegte die Menschen?

Die staatlichen Medien berichten zwar nach der vermeintlichen Asienwende häufiger über die Nachbarn in der EU. Es geht dabei aber weniger um Information. Stattdessen erhält das heimische Publikum die Vergewisserung, nur in Russland herrschten stabile Verhältnisse.

Das Flüchtlingsthema hat seit dem Spätsommer auch in Moskau Hochkonjunktur. Die anfängliche Hilfsbereitschaft in Deutschland wurde im TV als ein Zeichen besonderer Naivität dargestellt. Denn wer komme da nicht alles ins Land: islamistische Attentäter, Wirtschaftsflüchtlinge und Konkurrenten, ob bei Arbeitsplätzen oder Sozialleistungen. Den Hinweis, Deutschland habe seit den 1990ern Millionen Menschen aus der Sowjetunion aufgenommen, lässt man nicht gelten.

Dass der „Untergang Europas“ nun angeblich bevorsteht, wird hier mit Schadenfreude aufgenommen. Man macht sich aber auch Sorgen um einen vermeintlichen Angriff des Islam auf die christliche europäische Zivilisation.

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