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Abrissparty mit Billigbeats

BORDLERLINE-POP Ganz schön neon: Die Hamburger Performance-Raver von HGich.T im Prägewerk der Alten Münze

Neon, neon, neon. So weit das Auge reicht. Ein Pulk von Leuten zappelt auf dem Dance­floor zu Rave-Geballer; das Gros der Tänzerinnen und Tänzer trägt Leuchtfarbe am Körper. Die meisten sind wahlweise vorsätzlich schlecht gekleidet oder aber kostümiert: Man trägt Unterhemd zur Sonnenbrille aus dem 1-Euro-Shop, Bademantel zum Hut mit Blink-Applikation oder ist gleich nur spärlich bekleidet. Ein Spinnennetz aus bunten Wollfäden zieht sich durch den Raum, Laserstrahlen funken dazwischen.

Verantwortlich für diese Mixtur aus Kindergeburtstag, Rave und 80er-Party ist das Hamburger Performancekollektiv HGich.T, das am Samstagabend im Prägewerk der Alten Münze auftritt. HGich.T – gesprochen Ha-Ge-Ich-Te – sind für ihre Abrisspartys und für Neodadaismus zu Billigbeats bekannt; der Name der Gruppe soll nach eigenen Angaben für „Heute Geh ich Tot“ oder „Hammer Geil ich Tattoo“ stehen.

Die Bandmitglieder nennen sich DJ Hundefriedhof, Karla Knyh oder Fotzi Cat. Bekannt wurden HGich.T vor fünf Jahren mit YouTube-Videos zu Songs, die „In der Sekte wird gebumst“ oder „Hauptschuhle“ hießen. In Letzterem, das sich millionenfach klickte, tanzen Gruppenmitglieder in Windeln und Warnweste auf einem matschigen Acker.

Entsprechend hat sich eine interessante Mischung von Leuten im Prägewerk eingefunden, das seit kurzer Zeit wieder für Veranstaltungen genutzt wird: Raver, Metalheads und Normalos, Dreadlockmädchen und Milchgesichter. Für das Warm-up dieser heterogenen Crowd zeichnet Schlagersänger Dagobert verantwortlich, der sein Set passenderweise mit dem Song „Verstrahlt“ beginnt. Auf der Bühne sind 80er-Relikte wie ein Umhängekeyboard oder eine Flying V-Gitarre mit blinkenden Out­lines zu sehen – und auch der aus der Schweiz stammende Sänger hat irgendwas 80er- und Falco-Mäßiges, sein ironisch-schwülstiger Sound kommt aber eher schlageresk daher.

Grandios oder gaga?

Dann HGich.T. Die Meute johlt und hüpft, als Sänger Anna-Maria Kaiser (sic!), vom Äußeren Typ Beamter mit Brille und Halbglatze, mit einem strammen „Guten Morgen“ in Lehrermanier den Auftritt einläutet. Die HGich.T-Songs bestehen größtenteils aus Monologen Kaisers, die er zu Beats oder zu Gitarrensoli vor sich hin faselt. Es geht um Flugzeugentführungen und Hartz IV, um Facebook und iWatch, um Sex, Depressionen und Kiffen – und darum, wie das war damals auf dem Schulhof, als man schlecht in Sport war und dann auch noch seinen Turnbeutel vergessen hatte.

Kaiser grölt, lallt und wütet mit friesischem Akzent und lässt sich über die Hände der Zuschauer hinweg durch den Saal tragen. Bei „Hauptschuhle“ oder „Harz For“ shoutet der ganze Saal mit, ebenso bei „Künstlerschweine“: „Künstlerschweine, Künstlerschweine/ ja, ich breche euch die Beine …“

Solche Songs sind es, die einen darüber nachdenken lassen, ob HGich.T jetzt großartige Gegenwartskunst machen oder ob sie einfach nur gaga und redundant sind. So ganz sicher bin ich mir da nicht. Fest steht nur: Es geht um Exzess, es geht um die Artikulation des alltäglichen Wahnsinns; und das bis zu 20-köpfige Kollektiv, das an der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg zusammengefunden hat, trifft irgendeinen Nerv – entweder findet man sie scheiße oder genial, dazwischen gibt es nichts. Bei den gut 500 Feierbiestern im Saal, von ­denen viele ziemlich druff sind, ist man sich hingegen nicht so sicher, ob der doppelbödige ­Borderline-Pop auch so ankommt.

Während der Auftritt von HGich.T nahtlos in ein DJ-Set übergeht, wird am Merchandise-Stand weiter mit Farbe rumgeschmiert. Die HGich.T-Crew verkauft Gemälde, die vor Ort gemalt werden. Der Absatz ist gut, die Lieblingsmotive sind Schwänze und Titten. In Neon, natürlich. Jens Uthoff

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