piwik no script img

Wirklichkeit, die zu schwer ist

Die da oben Verschwörungstheorien helfen, die komplexe Realität zu verstehen. Das zeigt auch ein Blick auf die Reaktionen im Netz nach den Anschlägen von Paris

Waren es die Tempelritter aus Rache für ihre Zerschlagung durch den fran­zösischen König 1307? Vielleicht war es doch der Mossad gemeinsam mit dem französischen ­Geheimdienst, um Zwietracht zwischen MuslimInnen und NichtmuslimInnen zu schüren? Eventuell ist es aber auch der nächste Schritt zur ­“jüdischen Weltbeherrschung“, von der in den gefälschten „Protokollen der Weisen von Zion“ die Rede ist.

Bereits nach den Anschlägen auf Charlie Hebdo und einen jüdischen Supermarkt in Paris Anfang des Jahres meldeten sich schnell die ersten Netzpara­noikerInnen, die behaupteten, Israel sei in Wirklichkeit Drahtzieher der Anschläge. Jetzt, nach den Anschlägen in Paris, sei Europa noch einfacher zu unterjochen.

Woher kommen diese wirren Mutmaßungen? „Je komplexer die Gesellschaft, desto größer der Wunsch nach einfachen Erklärungen“, sagt Anetta Kahane, Vorsitzende der Amadeu Antonio Stiftung. „Die Geschichte war niemals frei von Verschwörungstheorien.“ Moderne Gesellschaften lieferten aber eigene Formen der Schuldzuweisung: „Der heutige Kapitalismus und die gegenwärtigen Gesellschaftsverhältnisse befördern insbesondere antisemitische Bilder.“ Die Verbindung von Globalisierung und Finanzkapital lassen sich einfach auf das stereotype Bild des „Finanzjudentums“ projizieren – auch aus einem antikapitalistischen Affekt.

„Verschwörungstheorien lassen sich in allen gesellschaftlichen Schichten und politischen Lagern finden“, sagt Giulia Silberberger, Betreiberin der Face­book-Seite „Der Goldene Aluhut“. Viele Menschen fühlten sich entwurzelt in einer Welt, die immer größer werde. Sie empfänden ein Unbehagen und „suchen eine ideologische Heimat“, sagt sie.

Diese Leute verstehen nicht, wie jemand so radikal sein kann, Anschläge wie in Paris zu begehen. AnhängerInnen von Verschwörungsideologien suchen Schuldige, um sich selbst und ihrer Umwelt irgendwie Stabilität zu verleihen.

Woher diese Gewalt in Paris? In seiner Schrecklichkeit entzieht sich das Ereignis dem menschlichen Verstand: Es gibt Menschen, die sich selbst und viele andere abgeklärt und auf grausamste Art in den Tod reißen. Für die VerschwörungsanhängerInnen erscheinen islamistische Ideologie und ihre Ursachen als Erklärung nicht ausreichend.

Menschen sind fassungslos, ohnmächtig. Dazu kommt ein Unbehagen über das eigene Leben: Arbeit, Leistungsgesellschaft, prekäres Dasein. Aber: Dieses Gefühl lässt sich ablegen, wenn man das Problem scheinbar benennt: „Schuld sind die anderen“ – auch nach Paris.

„Die anderen“, das sind die, die VerschwörerInnen, das „eine Prozent“, gierige BankerInnen, FinanzoligarchInnen oder die Rothschilds, das angeblich von Hinterzimmern aus die Welt regiert. Nicht dass ein Unbehagen in unseren Zeiten völlig unberechtigt wäre, doch dieser Hass gegen „die anderen“ mündet schnell in antisemitische Tiraden und Gewalttaten.

Stefan Christoph und Volkan Ağar

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen