: Die Dorf-Klaustrophobie
THEATER Ein Requiem für eine Familie: Josef Bierbichlers Roman „Mittelreich“ in den Kammerspielen in München
von Annette Walter
Bayerische Autoren, die das subversive Potenzial des Freistaats jenseits von Heimatidylle und Weißbiergemütlichkeit offenlegen, haben an den Münchner Kammerspielen auch unter dem Intendanten Matthias Lilienthal einen festen Platz. Da zeigt sich die Kontinuität zum Vorgänger Johan Simons. Der ließ etwa Gerhard Polt in „Ekzem Homo“ granteln oder Armin Petras Franz Xaver Kroetz’ „Bauern Sterben“ auf die Bühne bringen.
Jetzt also Josef Bierbichlers Roman „Mittelreich“, eine Geschichte, in die der Schauspieler und Autor seine eigene Biografie in eine fiktive Familiensaga im 20. Jahrhundert einfließen lässt. Es spielt vermutlich am Starnberger See, wo Bierbichler auch selbst herkommt und lebt, obwohl er sich beim Spielort der Handlung nie festlegen wollte. Man muss diesen bayerischen Kommunisten allein dafür mögen, dass er mal seine „Abneigung an der Puffwerdung des Dorfes“ ausdrückte und damit die Neureichen an den Seen des Alpenvorlandes kritisierte, die die Ufer der Seen am liebsten komplett privatisieren würden und damit die Motoren der Kommerzialisierung der ländlichen Gesellschaft sind.
Es geht in „Mittelreich“ also um Familie und Flucht, Erinnerung und Erbe, Kirche und Krieg, kurz: um Leben und Tod. Und deshalb startet die Inszenierung mit einem Begräbnis: Der Seewirt Pankraz wird zu Grabe getragen. Dazu singt der Chor aus Brahms’ „Ein deutsches Requiem“: „Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden.“ Die Regisseurin Anna-Sophie Mahler dampft das Epos – fast 400 Seiten fasst der Roman – als strenges Kammerstück auf knapp zwei Stunden ein und strukturiert das Textfragment mit Hilfe eines musikalischen Rahmens: Die sieben Teile des Requiems dienen als Gerüst.
Unter den Teppich gekehrt
Musik spielt bei Mahler, Jahrgang 1979 und bei Schlingensief und Marthaler ausgebildet, eine große Rolle. Sie hat Musiktheater studiert und ist opernerfahren. Zuletzt inszenierte sie etwa „Carmen“, „Tristan und Isolde“ und „Francesca da Rimini“, Letzteres bereits in München an der Bayerischen Staatsoper.
So lässt sie auch die Akteure dieser verhakten, hierarchischen Familienkonstellationen singen: Steven Scharf als Semi, Sohn des Seewirts (Stefan Merki), seine Frau Theres (Annette Paulmann) und der jüngste Sohn (Thomas Hauser). Das ist so düster wie der klaustrophobisch enge Raum – das karge Bühnenbild von Duri Bischoff versinnbildlicht den Heimatknast –, von dessen Wänden die weiße Farbe abblättert wie die Fassade der Seeidylle. Es ist Steven Scharf, der die stärkste Darstellung an diesem Abend abliefert. Er hadert als Gastwirtssohn mit dem, was in seiner Familie unter den Teppich gekehrt wurde: „Warum weiß ich nicht, was der deutsche Wehrmachtssoldat in Russland und Frankreich tat, der mein Vater war?“ Scharf trägt diese strenge Inszenierung, die fast gänzlich auf Effekte verzichtet und in dem der wütende Ton des Romans entschärft wurde. Weniger als gespielt und agiert wird hier erzählt.
Diese statische Atmosphäre auf der Bühne wird zum Synonym für das starre Dorfgefüge, das die Luft zum Atmen abschnürt und am besten in der bayerischen Provinz gedeiht. Wo Nationalsozialismus und Missbrauch in der Kirche wuchern, wo sich ein Transgender-Wesen namens Fräulein Zwittau (ein herrlich queeres Intermezzo des Australiers Damian Rebetz von der Gruppe Gob Squad) verkriecht und die bigotte Mutter Theres irgendwann bereut, dass sie der immer die Kinder anvertraut habe – „Warum hat er sich denn dann nicht auch operieren lassen, der Fräulein Zwittau, wenn er schon so was hat?“ –, da sind wir nicht mehr weit von der Tagespolitik im November 2015 entfernt. Irgendwann stehen auch in „Mittelreich“ die Flüchtlinge aus den Ostgebieten vor der Tür. Theres spricht dann ein paar Unverschämtheiten aus, die man heute noch in der CSU hört: „Das sind einfach ganz andere Menschen, diese Flüchtlinge. Die passen einfach nicht in unsere Gegend.“
„Mittelreich“ ist eine solide und bodenständige Inszenierung, kein Tamtam, kein Meisterstück, klassisches, unaufgeregtes Sprechtheater, das auf ein exzellentes Ensemble setzt. Mit so einem Stück kommt man beim Münchner Publikum gut an, dass bei extravaganteren Inszenierungen in der Vergangenheit gern mal vor Schluss die Flucht ergriff. In Reihe sieben klatscht am Premierenabend übrigens ein Mann, dessen Zustimmung zur Inszenierung damit sicher ist: der Bierbichler selbst.
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