Letztes Mal Chaussee der Enthusiasten: Tschüss, Chaussee!
Berlins wohl bekannteste Lesebühne tritt nach 16 Jahren in den Ruhestand. Sechs ehemalige und aktuelle Autoren und Gäste erinnern sich
Danke für die Groupies
Wenn ich heute den Text lese, mit dem ich mich am 11. November 1999 am Open Mic der Chaussee der Enthusiasten zum ersten Mal dem Publikum und meinen späteren Kollegen präsentierte, dann erschrecke ich ob der Qualität meiner Geschichte. Umso dankbarer bin ich, dass dies die Gründer der Lesebühne nicht davon abhielt, mich kurz darauf als Gast einzuladen und mir später anzubieten, festes Mitglied zu werden.
Ich zögerte, denn ich hatte große Zweifel, ob ich auch nur einen Monat lang jede Woche zwei neue Texte verfassen könnte. Zum Glück gab ich meinen Bedenken nicht nach. Mein Leben wäre um etwa 800 Auftritte ärmer. Ich hätte nie über 1.500 Geschichten geschrieben. Ich hätte nie Bücher veröffentlicht. Ich hätte andere Bücher gelesen, andere Filme gesehen, andere Musik gehört.
Vielleicht würde ich nicht mehr in Berlin leben, denn die Chaussee war für mich immer ein Grund zu bleiben. Ohne meine Aura als Lesebühnenautor hätte ich nie so gut von meiner Spießigkeit ablenken können und – das gebe ich in aller Eitelkeit zu – nie Groupies gehabt.
Und vor allem wäre ich nicht mit Menschen aufgetreten, deren Geschichten mich in 16 Jahren fast nie gelangweilt haben, mit denen ich Gespräche, trotz aller Spannungen, die es in jeder Band irgendwann gibt, immer inspirierender fand als mit den meisten Personen, die ich sonst getroffen habe. Ich weiß nicht, ob viele die Chaussee vermissen werden. In meinem Leben wird sie sich nicht einfach ersetzen lassen. Stephan Serin
Unenthusiastisch heimisch
Im Dezember 2007 war ich das erste Mal in der „Chaussee der Enthusiasten“. Es war nach Weihnachten. Jochen hatte mich eingeladen. Wir kannten uns, deshalb war es auch nicht so stressig. Es war ganz schön schwierig, den Veranstaltungsort auf dem RAW-Gelände zu finden. Mehr als 100 Zuschauer waren da. Wir waren zu siebt; das Supatopcheckerbunny war auch dabei. Ich fühlte mich wie ein Star. Jeder las zweimal acht Minuten ungefähr. Der Abend war gut und auch gut bezahlt (90 Euro). Es war toll, direkt nach der Arbeit Geld zu bekommen. Manche kauften sogar Bücher.
Erst später fiel mir ein, dass ich in der Aufregung immer vergessen hatte, die Leute, die nach mir lasen, anzusagen. Das zog sich so durch: Ich las fünf- oder sechsmal in der Chaussee, und fast jedes Mal vergaß ich, Andreas, Stephan, Robert oder Dan anzusagen. Die Auftritte waren unterschiedlich. Das erste Mal hatte ich nur Hits gelesen, dann hatte ich mich immer viel zu lange vorbereitet.
Später ging’s besser. Ich las vor allem Texte, die ich in den letzten Wochen geschrieben hatte, und immer auch einen, der ganz neu war. Ich fühle mich in der Chaussee heimisch, auch wenn ich gar nicht enthusiastisch bin. Die letzten Male hatte ich immer unangekündigt gelesen, wenn jemand ausfiel; man fühlt sich als Überraschungsgast wie David Bowie. Das Publikum war immer prima gewesen. Leider kamen nachher nicht mehr so viele Leute. Ich vermisse die Chaussee sehr. Detlef Kuhlbrodt
Dem Irrsinn entkommen
Wie lange wir machen würden, wussten wir nie. Nun sind es 16 Jahre geworden, fast waren wir also volljährig. Jede Woche neue Texte, Lieder, Dialoge, Fotoserien, Gespräche. Von manchen Autoren heißt es, sie schrieben experimentell, für mich war es ein wöchentliches Experiment, Publikumsschriftsteller zu sein – da eine unsubventionierte Leseshow, die kaum Rückhalt in den Medien hat, ihr Publikum pflegen muss – und sich trotzdem literarisch „nach oben“ zu orientieren.
Das ging nicht ohne Humor, was uns von Anfang an für den Literaturbetrieb disqualifiziert hat. Ich war aber immer überzeugt davon, dass Kafka, Beckett oder Tschechow sich bei uns gut gemacht hätten. Schade, dass sie schon tot waren. Warum hören wir auf?
Eigentlich weiß ich es nicht. Für die Chaussee habe ich immer zum Spaß geschrieben, das geht leider nicht mehr, weil die Familie und der Brotberuf als Schriftsteller zu viel Zeit fordern. Um Miete und Essen für die Kinder zu bezahlen, muss ich nachts schreiben und mich mit Nähnadeln piksen, um wach zu bleiben.
Es wurde auch immer schwerer, einen geeigneten Raum für unsere Lesungen zu finden, bezahlbar, aber im Winter trotzdem beheizt und mit funktionierenden Toiletten. Es tat gut, dem Irrsinn der Welt einmal in der Woche zu entkommen. Ich hoffe, wir haben vielen Menschen das Herz gewärmt, uns auf jeden Fall. Ich weiß gar nicht, was ich jetzt mit meinen ganzen Ideen für Chaussee-Texte machen soll. Jochen Schmidt
Die Versöhnung fiel aus
Es war ein alberner Text. Hannelore Kohl selig ist darin vorgekommen. Es war nicht mein bester Text. Das war aber nicht der Grund, warum ich mitten im Text aufgehört habe zu lesen. Der Grund saß neben mir auf der Bühne.
Einer der Gründungsenthusiasten, ein Fan des BFC Dynamo, hatte so etwas wie ein Fanzine zusammengestellt. Vertrieben hat er es an den Leseabenden und im Stadion. Vor allem die Stelle, an der es um den Sturm der Fans auf ein Asylbewerberheim in Greifswald ging, hat mich abgestoßen.
Ebenso die Anzeige eines Labels, in der für die Band „Bierpatrioten“ geworben wurde. Die hatte schon mal recht unverhohlen zur Jagd auf Hippies aufgerufen. Für mich war das Nazimusik. Damit und mit dem Autor wollte ich nichts zu tun haben. Das habe ich dann gesagt, nachdem ich den Hannelore Kohl-Text abgebrochen hatte. Wer meiner Meinung sei, könne mit mir nach oben in den Schankraum gehen und mit mir über meine Bedenken diskutieren. Ich saß dann oben. Allein. Meine Zeit als Enthusiast war zu Ende.
Der Mann, neben dem ich nicht lesen wollte, durfte kurz darauf ein Buch im Aufbau Verlag veröffentlichen und darin über Türken witzeln, die Angst vor Leuten mit „Badekappenfrisuren“ hatten. Er war auch nicht lange Enthusiast. Irgendwann wollte ich mich mit den Enthusiasten versöhnen. Die lasen längst in einer riesigen Halle.
Kurz vor dem Ende der Show hat mich ein Hund gebissen. Die Versöhnung fiel dann aus. Andreas Rüttenauer
Verkaterte Fruchtfliege
Jede größere Lesebühne in Berlin entwickelte irgendwann ihren Spirit. Etwas, das kaum greifbar ist. Für mich garantierten in den sechzehn Jahren der Chaussee der Enthusiasten zwei Konstanten den Geist der Freiheit:
1. Die knochentrockene, präzise, humane, quasibuddhistische und wahnsinnig komische Authentizität des schwerhörigen Robert Naumann. In einem Text warnt er eine Fruchtfliege über die Folgen des Weintrinkens und schaut später gemeinsam mit dem verkaterten Insekt auf der Schulter in den Sonnenuntergang, um sich an den kleinen Dingen des Lebens zu erfreuen.
2. Jochen Schmidts bedingungslose Liebe zum Text. Im Gegensatz zum Klischee ist es nicht besonders schwer, Komik zu schaffen. Wirklich schwer ist es, die Zuhörer mit etwas Lustigem emotional zu berühren. Das gelingt nur ganz wenigen Künstlern. Jochen Schmidt ist einer von ihnen.
Eingerahmt von diesen beiden Protagonisten künstlerischer Wahrhaftigkeit fühlte ich mich geborgen genug, um meine Experimente zu wagen: Texte, Theaterstücke, Lieder, Performances, Interaktionen mit dem Publikum. Ich werde auch nach dem Ende der Chausseeschreiben, improvisieren und singen.Ob mit diesem enthusiastischen Gefühl der Freiheit, das weiß ich nicht.
(Andreas Gläser, Stephan Zeisig, Andreas Kampa, Volker Strübing und Kirsten Fuchs: entschuldigt, dass ich euch in diesem kurzen Text nicht erwähne. Die taz brauchte den Platz wahrscheinlich für wichtige Anzeigen.) Dan Richter
In Hochform abtreten
„Solange es die Chaussee gibt, ist die Welt noch in Ordnung“, sagt Jochen Schmidt. Jetzt gerät die Welt endgültig aus den Fugen, die Chaussee der Enthusiasten hört auf. Sie bestand ausschließlich aus Ostlern, die hauptsächlich von einer Spezialschule für Mathematik und einer Behindertenschule kamen. War es diese Mischung, die den Erfolg ausmachte?
1999 gegründet, hatte die Chaussee über 100 Zuschauer, 2003 über 200, 2004 über 300, 2008 über 400, Donnerstag für Donnerstag. Die Chaussee der Enthusiasten war lange die erfolgreichste Lesebühne des Landes. Aber nicht für immer, heute ist Schluss. Immerhin geht die Chaussee in Hochform ab, zeigt noch mal die verspielte Vielfalt, mit der sie Tausende amüsierte.
Die Autoren begannen 1999 im Cube Club, dem Keller der Kneipe tagung in Friedrichshain, sie gastierten in Amsterdam, Chemnitz, Lille, Sibirien, Innsbruck, Schanghai, Peking. Ihre Abschiedstournee endet heute in Berlin in der Alten Kantine der Kulturbrauerei.
In der Chaussee traten Stars wie Thomas Kapielski, Kurt Krömer, Flake von Rammstein und Ol auf, lange war die Show ein Vorbild für viele Studenten und Schriftsteller. Aber auch feste Mitglieder wie Jochen Schmidt, Volker Strübing, Andreas Rüttenauer, Kirsten Fuchs, Stephan Zeisig alias Serin und Dan Richter wurden zu Literatur- und Slam-Stars. Enden wird die letzte Show mit dem Outro-Dialog, wir wünschen uns, dass die überlange, ausufernde Absage, die früher das Publikum so stark polarisiert hat, niemals endet. Falko Hennig
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