piwik no script img

Start der Spielzeit Volksbühne BerlinHeilige Scheiße!

Frank Castorf beginnt seine vorletzte Spielzeit an der Volksbühne in Berlin. Das Stück: Dostojewskis „Die Brüder Karamasow“.

Schauspieler Alexander Scheer turnt über das Dach der Volksbühne. Foto: Thomas Aurin/promo

BERLIN taz | „Holy Shit“ ist einer der Slogans, mit denen Bert Neumann, im Juli verstorbener Bühnenbildner und Gestalter der Volksbühne in Berlin, kleine Streichholzschachteln bedrucken ließ. Und heilige Scheiße gibt es eine Menge in der ersten Inszenierung, die Frank Castorf nach Neumanns Tod in Berlin zeigt: „Die Brüder Karamasow“ in einem noch von Neumann konzipierten Bühnenraum.

Das liegt natürlich an dem intensiven Verheddern von Dostojewskis Romanfiguren in Mystizismus und Orthodoxie, ihrem Schlingerkurs zwischen Gott und Teufel auf der einen und der Angst vor dem Verlust dieser Richtungsweiser auf der anderen Seite. Mehr aber noch liegt es an einem Russland der Gegenwart, der unheimlichen Allianz zwischen orthodoxer Kirche und staatlicher Macht, und der hartnäckigen Wiederkehr der Gespenster des 20. Jahrhunderts.

Heilige Scheiße! Das sieht gefährlich aus. Der Schauspieler Alexander Scheer turnt über das Dach der Volksbühne, umkreist die übermannshohen Buchstaben „Ost“, die dort seit Jahren einen Erinnerungsraum und eine Blickrichtung markieren. Das Publikum sieht ihn per Videoübertragung, hinter dem schmalen Körper den Abgrund und dann die beleuchteten Straßen der Stadt.

Er redet direkt in die Kamera die wütenden, höhnischen, strafenden Worte des Großinquisitors an den gefangenen Jesus, eine in den Roman eingeschobene Erzählung. Er ist voller Vorwürfe an diesen Jesus, der gekommen ist, ihm Ärger zu machen, weil er den Menschen die Freiheit habe bringen wollen; eine Freiheit, die sie völlig überfordere und unglücklich mache. Der Großinquisitor setzt dagegen „Wunder, Geheimnis und Autorität“ als drei notwendige Instanzen des Glaubens, die den Menschen von der „Freiheit“ befreien. „Freiheit“, was für ein von Illusionen vernebeltes Konzept, spottet er.

Demagogische Auftritt

Dieser demagogische Auftritt, dem Scheer ganz besondere Schärfe verleiht, gehört zu den großartigen Szenen der Inszenierung. Der Text von Dostojewski liefert dabei eine argumentative Unterstützung für die Szenen, die nach einem Buch des russischen Autors DJ Stalingrad, „Exodus“, in die Gegenwart springen, von Drogensucht und Straßenkämpfen zwischen neonazistischen Fußballfans und linken Hools erzählen und Gewaltfantasien ausreizen.

Über die ganze Länge der Rampe wird nun gespielt und gerannt

Die Brüder sind dann plötzlich Angehörige einer postsowjetischen Generation, die vom Kommunismus die Autoritätshörigkeit, vom Stalinismus den Gedanken der Ausrottung und vom Mystizismus den Glauben, dass der Trieb zum Bösen die Essenz des Menschen sei, geerbt haben und zu einer neuen Mixtur aufkochen. In der Sauna hält einer von ihnen einen Vortrag über Reinigungsprozesse und meint damit den Krieg als idealen Schauplatz, Grausamkeit auszuleben.

Mag zwar im Stil der Inszenierung, in der Verausgabung der Schauspieler viel an die früheren Dramatisierungen der Romane Dostojewskis durch Castorf erinnern (an „Erniedrigte und Beleidigte“ und „Dämonen“ vor fast 15 Jahren etwa), so hat sich doch das Verhältnis zum Romanautor gewandelt. Oder scheint mir das nur so?

Damals jedenfalls kam mir das Irrlichternde, Irrationale der Figuren, ihr Mit-nichts-zu-Potte-Kommen, ihr steter Zweifel an endlich gefassten Entschlüssen ebenso wie das Energien verschwendende Spiel auch vor als ein Widerstand gegen die Tugenden des Liberalismus, gegen das Smarte, Tüchtige und Angepasste, gegen das rückstandslose Aufgehen in der Identität des vereinigten Deutschland.

Jetzt dagegen ist in der Bearbeitung des Romans das Erschrecken viel größer über das Wiedererkennen der vergangenen Muster in der Gegenwart. Was Markierungen des eigenen Widerstands waren, ist besetzt von neuen Ideologien. Und plötzlich steht man als Regisseur mit leeren Händen da; nichts mehr zu geben außer trauern. Und weil das mutlos und müde macht, setzt man ein bisschen mehr auf Tricks und Methoden, die früher den Laden doch auch zum Laufen brachten und den Funken überspringen ließen.

Sitzsäcke & Sitzsacksofas

Die Inszenierung dauert sechs Stunden, mehr als eine Pause gibt es nicht. Das ist anstrengend, auch wenn man auf den Sitzsäcken und Sitzsacksofas, die für die meisten Zuschauer in dem von Stühlen befreiten Saal und auf der Bühne bereitliegen, auch mal schlummern kann.

Anstrengend ist es auch, weil Handlung und Erzählung kaum noch Spannung liefern. Welcher der Brüder am Ende den niederträchtigen, sie stets provozierenden und verachtenden Vater (den Hendrik Arnst lustvoll widerlich gestaltet) ermordet hat, ist letztendlich egal; wer wen vorschiebt und warum, bleibt verworren.

„Was redest du denn da?“, „Das ist doch schon wieder Philosophie!“; durchaus vorwurfsvoll werfen sich die Figuren und die Schauspieler das an den Kopf; der Zuschauer hat womöglich auch gerade den Faden verloren. Rauszufliegen aus der Argumentationskette gehört dazu. Ja, eigentlich ist es auch eine der Hauptbeschäftigungen der Brüder, sich nicht zu verstehen; oder wenn der eine glaubt, sich im Bekenntnis des anderen zur eigenen Verloren- und Verderbtheit wiederzuerkennen, voller Empörung zurückgewiesen zu werden.

Sehnen als Schwäche

So geht es Alexej, der zwischen den Brüdern, dem Vater und den Frauen (um die Vater und Söhne teils konkurrieren) herumläuft und Konflikte zu lösen versucht. In einem massigen Körper stattet ihn Daniel Zillmann mit Zartheit und Zaghaftigkeit und dem tiefen Wunsch nach Verstehen und Anteilnahme aus. Vielleicht sehnen sich die anderen sogar nach seiner Empathie – aber weil Sehnen als Schwäche gilt, hassen sie ihn und auch sich wieder dafür.

Einen der Brüder, den illegitimen Sohn Pawel, spielt Sophie Rois, die Frank Castorf und der Volksbühne seit vielen Jahren die Treue hält. Von allen herumgestoßen, hat Pawel eine stille Präsenz. Sein Konzept ist die Beobachtung, Eindrücke zu sammeln; beinahe sanftmütig wirkt das – und ist doch wieder eine Art, den Hass zu nähren, diesmal den versteckten. Natürlich bereitet dieses Unheimliche, Unberechenbare der Schauspielerin eine große Lust.

Sauna & Sargfabrik

„Die Brüder Karamasow“ ist eine Koproduktion der Volksbühne mit den Festwochen Wien; dort fand die Uraufführung im Mai auf dem Gelände einer ehemaligen Sargfabrik statt. In Berlin ist die Inszenierung die erste Premiere der Spielzeit und Auftakt zu den letzten beiden Jahren von Castorf als Intendant an diesem Haus. Im September und Oktober stand auf dem Spielplan „Wir bauen um“: Nach einem Konzept von Bert Neumann wurden im Zuschauerraum die Stuhlreihen entfernt und mit der Bühne zu einer ansteigenden Rampe verbunden.

Über die ganze Länge wird nun gespielt und gerannt. Das Raumkonzept ist für die letzten beiden Spielzeiten Castorfs gedacht. Die holzgetäfelten Wände sind mit schwarzem Lametta verhängt. Hierhin lud die Volksbühne auch in der Nacht von Sonntag auf Montag zum Feiern ein, zu Ehren von Bert Neumann, der am 9. November 55 Jahre alt geworden wäre

Dass sich mit diesem Eingriff in den Raum aber noch einmal etwas am Konzept des Theaters verändert hätte, wie bei früheren Erfindungen Neumanns, ist nicht zu sehen. Gespielt wird in vielen verborgenen Nebenräumen, es gibt eine ordentlich unter Dampf gesetzte Sauna, einen Teich, ein Hippiezimmer für die Begegnung mit den launischen Liebhaberinnen, eine Mönchszelle und enge Gänge, durch die die Kamera immer wieder vor den Schauspielern hertanzt und expressionistische, klaustrophobische Bilder herstellt.

Filmische Bilder

Überhaupt ist die Dynamik der filmischen Bilder größer als die der Körper auf der Bühne. Das greift diesmal nicht so ineinander, ist nicht so kommentierend verschachtelt wie in Castorfs „Baal“, in München inszeniert und wegen Urheberrechtsverstößen verboten.

Vielleicht bringt man es als Projektion mit, dass all dies, das Einläuten der letzten Runde, die persönlichen Verluste, auch als Last mitgeschleppt wird durch diese Inszenierung. Man hat gerade keinen guten Lauf.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen