Das Ding, das kommt: Pfeifenaus demletzten Loch
Es ist so etwas wie Karies im Klanggedächtnis einer ganzen Region: Wenn man sie regelmäßig putzt – alle 20 Jahre, sagen Fachleute –, sehen die bleiernen Pfeifen von Barockorgeln von außen lange Zeit noch gut aus. Aber innen nagt an den rund 400 Jahre alten Instrumenten unwiderruflich der Zahn der Zeit.
Erst taucht weißer pudriger Belag auf, dann frisst sich der Bleifraß langsam nach außen. Und wenn die ersten Löcher zu sehen sind, ist es meist schon viel zu spät. Dann kann man die kranken Pfeifen nur noch ziehen und durch neue ersetzen. Und die Instrumente verlieren ihren typischen Klang: sehr rund, schön satt und etwas rau.
Rund 100 im 17. und 18. Jahrhundert vom berühmten Arp Schnitger und seinen Schülern gebaute Orgeln gibt es im Nordwesten Niedersachsens noch – die weltweit höchste Dichte an spielbaren historischen Orgelinstrumenten. Seit rund 20 Jahren setzen Schimmel und Bleifraß ihnen immer heftiger zu. Aber warum das so ist, darüber gab es lange Zeit nur vage Theorien: Autoabgase? Kohlenmonoxid aus der Zentralheizung?
Erste Hinweise, woran es tatsächlich liegt, lieferte das vor zehn Jahren begonnen EU-weite Projekt Collapse, das Proben von zwei niederländischen, zwei italienischen und der Stellwagenorgel der Lübecker St.-Jakobi-Kirche untersucht hat. Die meisten der an Korrosion leidenden Orgeln, fand das Team aus Metallurgen, Chemikern, Orgelbauern und Musikhistorikern heraus, waren vor Kurzem mit frischem Eichenholz und handelsüblichen Klebstoffen im Blasebalg restauriert worden. Die da verwendeten Stoffe sondern eine hohe Konzentration an Essigsäure ab. Und alle Orgeln waren im „norddeutschen Stil“ gebaut worden, mit einem kleinen Anteil Zinn im Blei.
Dass der Übeltäter tatsächlich die Essigsäure in Verbindung mit hoher Luftfeuchtigkeit ist, hat aber erst jetzt das Projekt „Korrosionsprobleme an historischen Orgeln im Gebiet der Metropolregion Bremen-Oldenburg“ der Bremer Materialprüfungsanstalt und des Fraunhofer-Instituts für Fertigungstechnik und Angewandte Materialforschung bestätigt: Anderthalb Jahre haben deren Forscher alle Register gezogen, haben Materialproben genommen und das Klima in den Kirchen untersucht. Und können nun zumindest ein paar Tipps geben, wie man eine Zeit lang verhindern kann, dass die kostbaren Instrumente aus dem letzten Loch pfeifen: Besser lüften – vor allem die Orgeln, indem man sie spielt; und regelmäßig heizen – aber nicht zu viel: 15 Grad müssen beim Gottesdienst reichen. Dann klingen die Orgeln auch tatsächlich wie damals. MATT
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen