: Nicht bloß eine Pfütze
WASSERWELTEN Schiffe ziehen vorbei, neues Plankton wird erforscht, ein junger Mann springt von Brücken und verschwindet und eine Künstlerin geht schwimmen und taucht immer wieder auf: In Kiel schaut eine Ausstellung in der Stadtgalerie das Wasser dieser Welt
Von Frank Keil
Hat wirklich niemand was gemerkt? Offenbar nicht. Wobei: Kurz zögert der Passant, der gerade über die Brücke geht. War da nicht was? Aber er geht weiter. Dreht sich nicht noch einmal um. Dabei hat vor ihm ein junger Mann Anlauf genommen und ist über das Geländer einer Brücke in einen reißenden Fluss gesprungen, in dem er verschwindet und nicht wieder auftaucht. Jedenfalls nicht sichtbar für den Betrachter. Abblende und Aufblende und die nächste Brücke taucht auf.
„Der Künstler sagt nicht viel zu seinen Arbeiten“, sagt Wolfgang Zeigerer, Leiter der Stadtgalerie Kiel, zu der Serie „Brücken“ von Sebastian Stumpf. Es ist eine beeindruckende Videoprojektion, realisiert in den Innenstädten von London, Genf oder Berlin, real knapp elf Minuten lang, gefühlt dauert sie weit länger.
Die Arbeit wird flankiert von einer weiteren Serie: „Pfützen“. Nun liegt der Künstler flach in einer Pfütze auf dem Boden. Und zwar der Länge nach. Die Arme eng an den Körper gedrückt. Die Hose ist schon ganz vollgesogen. Der Pulli auch. Es muss ihm doch kalt sein! Und wie kriegt er überhaupt Luft, so wie er da liegt, mit dem Gesicht nach unten mitten im Wasser? Und wieder gehen Passanten vorbei. Kümmern sich nicht. Soll er doch da liegen bleiben! Vielleicht aber haben sie auch einfach nichts gesehen.
Sebastian Stumpfs in Kiel gezeigte Arbeit ist eine, die vom Verhältnis zur hoffentlich nicht zu übersehenden Person im öffentlichen Raum erzählt. Es ist nicht zuletzt auch eine Neuauflage der alten Frage nach dem Künstler als Skulptur. Franz Erhard Walther fällt einem ein und zugleich Bas Jan Ader; und gewiss muss man an das Foto von Yves Kleins Sprung aus dem Fenster denken, auch wenn das Bild – wie man heute weiß – eine Fotomontage ist.
Hier aber scheint alles echt zu sein: der Anlauf, der Sprung, das Klatschen, wenn der Künstler ins Wasser fällt – und verschwindet. Hat man sich von dem Schrecken erholt, werden Stumpfs Arbeiten immer lustiger. Und man geht mit einem Schmunzeln weiter. Geht durch „Waterscapes – Wasserlandschaften in der Gegenwartskunst“, so der Titel der aktuellen Ausstellung in der Kieler Stadtgalerie nahe des Hauptbahnhofes, die Werke zum Thema aus Finnland und aus Leipzig versammelt.
Kunst und Fotografie aus Finnland sind für die Stadtgalerie nicht ungewöhnlich. Schließlich ist das Haus Teil des Verbundes ARS Baltica und stellt regelmäßig Künstler aus den Ostseeanrainerstaaten vor. Und hat dabei einen noch mal besonderen Draht zur Fotokunst der Helsinki-Schule, so dass zuletzt prominente Einzelausstellungen von Ari Saarto und Jaakko Heikkilä zu sehen waren, wobei Letzterer dieses Mal mit elegischen Wasserspiegelungen aus Venedig dabei ist. Aber Leipzig?
Zunächst mutet die Verknüpfung etwas gewollt und auch zufällig an, aber die ausgewählten Arbeiten überzeugen und treten in einen Dialog: Tuula Närhinen kreiert aus dem am Strand gefundenen Plastikmüll bunte Wesen, die sie auch zeichnerisch umsetzt, als seien sie gerade von Forschern entdeckt worden, während Tilo Baumgärtel malerisch beeindruckend Sintfluten beschwört.
Antti Laitinen dokumentiert seine Überfahrt von Finnland nach Estland in einem selbst gebauten, drei Meter langen Boot ohne jeden Schutz – der Mensch verloren auf dem weiten Meer, der unverdrossen weiter segelt. Dazu passt die Arbeit „Rivalis“ von Stefan Stößel. Er wurde während eines Stipendiums mit Residenzaufenthalt am Niederrhein nicht müde, die dort vorbeiziehenden Binnenschiffe zu betrachten, die Namen tragen wie „Basta“, „Rebel“, „Riskant“ oder auch „My Way“.
Eine filmische Arbeit hat es absolut in sich und ist ein echter Gegenpol zur burschikosen Brückenspringerei und Pfützenliegerei des Sebastian Stumpf. In „The Black Bay Sequence“ von Elina Brotherus steigt die Künstlerin in einen finnischen See, seelenruhig taucht sie ein, schwimmt ein paar Züge, kehrt um und entsteigt dem Wasser wieder. Taucht ein, schwimmt, kehrt zurück. Und noch mal. Und noch mal. Mal dämmert es, mal scheint es früher Morgen zu sein. Der Himmel ist grau, der Himmel ist von Wolken nur so betupft, der Himmel ist hell und klar. Und der See liegt mal spiegelglatt da, mal perlen Regentropfen auf seiner Oberfläche, mal brechen sich die Wellen. Und immer wieder steigt die Künstlerin in diesen See und kommt zurück.
Beim Zusehen stellt sich aber nicht dieses Gefühl von „Ja, ja – ich habe das Konzept schon verstanden!“ ein, das serielle Arbeiten manchmal mit sich bringen. Im Gegenteil: Man bleibt einfach und schaut Sequenz für Sequenz zu, wie die Künstlerin ins Wasser schreitet und ihm wieder entsteigt. Berückend-berührend ist das: eintauchen, schwimmen, auftauchen.
„Waterscapes – Wasserlandschaften in der Gegenwartskunst“: bis zum 22. November, Stadtgalerie, Andreas-Gayk-Straße 31, Kiel
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen