: „Der Humus, um eine bessere Gesellschaft aufzubauen“
46, ist mit der Gruppe „No Lager Bremen“ beim transnationalen Netzwerk Afrique-Europe-Interact aktiv, einem Erfinder des Seenot-Telefons „Watch-The-Med“.
Ich bin seit 1986 im antirassistischen Bereich aktiv und habe eine lange Phase erlebt, als es einer großen Mehrheit völlig egal war, was mit Geflüchteten passiert. Auch in der aktuellen Situation ist die Gefahr eines Rechtsrucks ganz real. Es ist unerträglich, wie etwa die SPD gerade einheizt.
Heutzutage befinden sich aber auf einmal viel mehr Leute in einer Situation, in der sie sich engagieren und nun entscheiden müssen, wie sie zu dieser Hetze stehen. Es ist der beste Schutz gegen alle Formen von populistischer oder neonazistischer Mobilisierung.
Deshalb begrüße ich das breite Engagement. Denn aus dem Gemisch der verschiedenen Motivationen entsteht jener „Humus“, aus dem sich die Solidarität speist, um eine bessere Gesellschaft aufzubauen.
Abschiebungen etwa sind in den letzten Jahren zwar auch durch linke AktivistInnen, aber noch mehr durch Schulklassen, Kirchengemeinden und Nachbarschaften gestört und verhindert worden. Wenn nun Geflüchtete auch privat untergebracht werden, ist das gut, denn es verhindert Rassismus, weil Menschen in Kontakt kommen. Ich würde die Kritik, dass sich der Staat aus der Verantwortung zieht, nicht in eins setzten mit einer Kritik an konkretem Engagement.
Die Frage stellte sich auch beim Aufbau des „Watch-The-Med“-Alarmphones, bei dem wir Menschen in Seenot unterstützen: Wir ersetzen nicht einfach eine staatliche Seenotrettung, sondern verbinden unsere Aktivität mit einer radikalen Kritik an der Einschränkung von Bewegungsfreiheit. Über das Engagement für das Phone ist zudem ein Netzwerk aus AktivistInnen aus ganz Europa und Afrika entstanden – quasi Migrationsbrücken, die sich nicht mehr einreißen lassen.
Eine Essensausgabe durch Ehrenamtliche ist etwas ganz Anderes als eine staatlich organisierte, die das offizielle Programm abspult. Die Fährtickets nach Schweden, die in Lübeck verteilt werden, unterstützen Leute in ihren selbstbestimmten Entscheidungen. Dort, wo Ehrenamtliche nicht mehr können, muss der Staat einspringen – aber der gesamtgesellschaftliche Mehrwert wäre kassiert, der Mehrwert, dass sich Menschen auf einmal für die knallharten globalen Ungleich-Verhältnisse interessieren müssen. Die totale Kapitulation allerdings ist es, wenn Leute, die zuvor ehrenamtlich engagiert waren, sich professionalisieren und sich dann einen Maulkorb verpassen lassen.
Was man nicht vergessen darf: Die aktuelle Situation ist einmalig positiv, denn das europäische Grenzregime ist zusammengebrochen.
Strecken, für die Leute sonst Jahre gebraucht hätten, können jetzt in ein paar Tagen überwunden werden. Das wäre nicht denkbar, wenn nicht überall Leute wären, die das unterstützen: Leute, die über Liveticker informieren, wo man die Grenze überwinden kann und die gleichzeitig Babynahrung verteilen – politische und humanitäre Unterstützung müssen also ineinandergreifen.
PROTOKOLL: jpb
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