Die Wahrheit: Nur noch Brösel
Eine Sprachstanze ist in alle Bereiche unseres Lebens eingebrochen: Das launige Wort „Sollbruchstelle“ zersetzt unser aller Dasein.
Die Lasche einer Getränkedose ist eine, manche Stanzverbindung in Maschinen auch. Der Straßenpoller hat eine, Bahnschranken, Hindernisse im Pferdespringsport, sogar Gleitschirme und Tabletten zum sicheren Teilen: die Sollbruchstelle. Das Wort kam in den achtziger Jahren in der Mechanik auf. Es bezeichnet ein Konstruktionselement, das im Schadens- oder Überbelastungsfall gezielt versagt, um dadurch den Schaden im Gesamtsystem klein zu halten. Auch die Sicherung ist eine Sollbruchstelle – bei Kurzschluss wird genau hier der Strom unterbrochen.
Bald machte die Sollbruchstelle Karriere. Ging etwas kaputt, sagte man: War wohl die Sollbruchstelle, haha. Oder im Trennungsfall: „Der Sex war unsere Sollbruchstelle.“ Hoho.
Und heute hat sie Karriere gemacht und ist sogar bis Aachen gekommen, wo am 25. August 2015 eine Diplompädagogin einen Vortrag hielt über die „Sollbruchstelle Pubertät“.
In Mekka sterben über 700 Menschen bei einer Massenpanik, und Spiegel online schreibt am 24. September 2015: „Die Brücke war lange die Sollbruchstelle der Pilgerfahrt.“
Am 3. Mai 2015 bereits weiß der Donaukurier aus dem Sport zu berichten: „Die Trainer sind quasi die Sollbruchstelle im Fußballgeschäft.“ Da will das Kulturleben nicht zurückstehen. In Zürich gibt es eine Kunstgalerie mit Namen Sollbruchstelle. Das Darmstädter Echo sieht in einer Theateraufführung die „Angst als Sollbruchstelle der Seele“. Warner Music bewirbt einen Song über Liebesleid aus dem neuen Album der Gruppe Blur mit der Headline: „Herz, du meine liebste Sollbruchstelle.“ Anders die Fernsehmoderatorin Andrea Göpel: Sie fand nach ihrer Embolie ihre Lunge als Schwachpunkt: „Jeder Körper hat eine Sollbruchstelle.“
Zurück zum Ausgangspunkt, der schnöden Welt der Ingenieure, in der die Sollbruchstelle bald einen neue Aufgabe bekam und zum Ausdruck von Obsoleszenz wurde, von geplantem Verschleiß also. Inzwischen baut die Industrie gezielt eine lebensdauerverkürzende Schwachstelle in ein Produkt – möglichst versteckt und unreparierbar. Ministelle defekt – Totalschaden perfekt. Kauft man ein neues Produkt, hat es wahrscheinlich eine noch raffiniertere Sollbruchstelle.
Die Industrie hat mittlerweile sogar die digitale Scheinsollbruchstelle erfunden. Bestes Beispiel: Drucker, die einen Defekt anzeigen und streiken, ohne wirklich kaputt zu sein. Und man kann nichts machen, außer einen neuen Drucker kaufen. Das ist Käuferbetrug 2.0.
So wurde die Sollbruchstelle bald zum Menetekel des Konsums. Da ist der Skandal um die VW-Abgassoftware nur eine weitere Steigerung: Aufgabe dieser digitalen Sollbruchstelle war es, Filtersysteme zwischen Gifterzeugung und Vergiftung heimlich ein- und auszuschalten. Eine Wechselsollbruchstelle also. Mögliche Folge: der Zusammenbruch des ganzen kriminellen Konzerns.
Im Archiv der taz findet sich die „Sollbruchstelle“ 157-mal. Erstmals taucht sie am 6. Februar 1989 in einem Interview mit dem seinerzeitigen Berliner Regierenden Bürgermeister Walter Momper auf: „Wenn Sie dann eine Sollbruchstelle schon einbauen, kann das nur schiefgehen.“ Momper meinte ein politisches Koalitionsbündnis. Bald danach, am 7. April 1989, hat der taz-Autor den Begriff als Erster in einem eigenen Text benutzt, indes noch in Anführungszeichen gesetzt, als er nach einer „möglichen ‚Sollbruchstelle‘ der Koalition“ im Berliner Senat fahndete.
Die politische Klasse liebt das Wort
„Die Sollbruchstelle einer Liebe“, verortete schon 1987 die CDU-Senatorin Hanna-Renate Laurien in einem Buch. Heute ist die politische Klasse längst selbst in das Wort verliebt. So weiß die Wirtschaftswoche am 13. Juli 2015: „Die griechische Linke hat schonungslos offengelegt, wo die Sollbruchstelle innerhalb der EU verläuft.“ Und der Focus berichtet am 11. September 2015: „Bayerns Finanzminister Markus Söder (CSU) sieht die Sollbruchstelle für die Republik durch den massenhaften Zuzug langsam nahen.“ Nun bricht also bald schon unser schönes Staatswesen entzwei. Politiker sind offenbar Spezialisten fürs Scheitern. Im Wirtschaftsfachbuch „Wo bleibt die Revolution? Die Sollbruchstelle der Macht“ wird das sicher näher erklärt.
Und ja, auch das Leben an sich hat schon immer eine Sollbruchstelle. Man sagt Tod dazu. „O Gevatter Sollbruchstelle, / senst hinweg mit Eil und Elle, / machst den Mensch der Erde gleich – / schickst ihn so ins Himmelreich.“
Ist das nicht von Rilke? Ziemlich seiner Zeit voraus der Typ.
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