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Mehr Vielfalt bedeutet mehr Lebensqualität

GESPRÄCHE ÜBER LITERATUR Zwischen Terror, Kriegsverbrechen und Holocaust-Comic – beim 15. Internationalen Literaturfestival in Berlin wurden Grenzen der Menschlichkeit ausgelotet

Plädiert für Härte gegen Fundamentalisten: Wole Soyinka Foto: Leemage/picture alliance

von THOMAS HUMMITZSCH

Ein Literaturnobelpreisträger kommt nicht alle Tage. Entsprechend war die Seitenbühne der Berliner Festspiele bis zum letzten Platz ausverkauft, als Wole Soyinka am Dienstagabend beim 15. Internationalen Literaturfestival Berlin (ilb) in Erscheinung trat. Vielleicht eine der letzten Gelegenheiten, den 81-Jährigen live zu erleben. Der 1986 mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Autor ist eine beeindruckende Erscheinung, sein tiefer Bariton trägt davon. Hebt der Nigerianer zu sprechen an, vergisst man für einen Moment die Welt.

Am Dienstag redete er über Vertreibung sowie den islamistischen Terror, philosophierte aber auch grundsätzlich über den Begriff Menschlichkeit. Dabei schloss er an sein vielstimmiges Schreiben über das Drama des Daseins an. Menschlichkeit als solche sei in Gefahr, mahnte er, Milizen wie Boko Haram oder Islamischer Staat hätten ihr den Kampf angesagt. „Humanophobie“, ein Hass auf alles Menschliche, befeuere deren globale „Konkurrenz der Bestialität“ um den Rang der „dia­bolischsten und sadistischsten Gruppe“.

Soyinka plädierte für Härte im Umgang mit Fundamentalisten. Wer sich unmenschlich zeige, habe das Recht verwirkt, selbst menschlich behandelt zu werden, erklärte er mit erhobenem Zeigefinger. Bei solch einer Argumentation wird Menschenrechtlern schwindlig, die Zuhörenden zollten kräftig Applaus. Krieg, Terror und Gewalt tragen zu weltweiten Flüchtlingsbewegungen bei. Einiges wiederholte sich daher an dem am gleichen Abend anberaumten Gespräch über Vertreibung. Auf die Frage, was er von der aktuellen europäischen Flüchtlingspolitik halte, ließ Soyinka sich kaum ein. Europa solle daran denken, dass niemand mit leeren Händen komme und Vielfalt zu mehr Lebensqualität führe.

Auf die Abgründe, von denen Soyinka sprach, stößt man auch in der Gegenwartsliteratur. Etwa beim Australier Richard Flanagan, der am Mittwoch seinen Roman „Der schmale Pfad durchs Hinterland“ vorstellte. Dessen Titel zitiert ein Gedicht des Poeten Matsuo Bashō. So steht am Anfang dieses Ro­mans über den Horror der japanischen Kriegsgefangenschaft an der Thailand-Burma-Eisenbahn ein Höhepunkt traditioneller japanischer Literatur. Dies zeige die Ambivalenz des Menschen, erklärte Flanagan. Zwölf Jahre hat er an dem Roman geschrieben, von fünf vollständigen Fassungen habe er vier vernichtet. Die „am besten misslungene“ fünfte Version wurde 2014 mit dem Man Booker Prize ausgezeichnet.

Die iranische Zensurbehörde änderte einen Roman von Cheheltan

Ganz anders Amir Hassan Cheheltan, dem die iranische Zensurbehörde eine veränderte Version seines Romans „Iranische Dämmerung“ vorsetzte, in der homoerotische Passagen gestrichen waren. Wie zum Hohn sollte diese 2007 den staatlichen iranischen Buchpreis erhalten. Cheheltan protestierte erfolgreich dagegen, darf seither aber nichts mehr im Iran publizieren. Im Oktober erscheint nun erstmals die von ihm autorisierte Fassung dieser Erzählung eines Mannes, der 1979 nach jahrelangem Exil nach Teheran zurückkehrt und Zeuge der Islamischen Revolution wird.

Am Samstag wird das ilb nach knapp 250 Veranstaltungen schließen. Bis dahin schlägt das Herz des Festivals im Foyer der Berliner Festspiele, wo all­abendlich Westberliner Boheme, Bildungsbürgertum, intellektuelle Mittelschicht und Studierende bei Grünem Veltliner und Couscous zueinanderfinden. Leser halten Ausschau nach ihren Lieblingsautoren, tauschen am Büchertisch ihre Lektüreerfahrungen aus, und Landsleute der Künstler aus aller Welt diskutieren über die neuen Perspektiven auf ihre Herkunftsländer.

Hier sprach man noch Tage nach ihren Auftritten über Navid Kermanis „Ungläubiges Staunen“ über das Christentum, den Run auf die japanische Autorin Banana Yoshimoto oder die von der britischen Feministin Laurie Penny angestoßenen Debatten. Überhaupt gehörten die Veranstaltungen „Zur Lage des Feminismus“ zu den emotionalen Höhepunkten des gut besuchten Festivals – auch weil sie noch einmal ein ganz anderes Publikum anzogen. Dies gelang am sonntäglichen „Graphic Novel Day“ nur teilweise. Mit Joann Sfar und Pablo Roca sagten gleich zwei Zeichner kurzfristig ab, dennoch bot der Tag die ganze Vielfalt der Neunten Kunst; vom frankobelgischen Holocaust-Comic über grafische Politreportagen aus Russland bis hin zu einem außergewöhnlichen deutsch-nigerianischen Comicprojekt. Die ersten Bilder sahen vielversprechend aus, doch bis zum Erscheinen der beiden Alben muss man sich noch ein gutes Jahr gedulden.

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