: Die Zukunft hinter uns
CROSSOVER Das Langzeitprojekt „100 Jahre Gegenwart“ im Haus der Kulturen der Welt macht zum Auftakt ein breites interdisziplinäres Themenspektrum auf: Kriege um Öl, Migration und Flucht, Wohnraum und Big Data
von Stefan Hochgesand
„100 Jahre Gegenwart“ – das klingt doch nach Provokation. Vieles von vorgestern erscheint doch schon nichtig. Was soll da 1915 noch mit 2015 zu tun haben? Und doch: Nachdem sich Europa lange in Frieden wähnte, wissen wir wieder, dass Krieg auch hier Realität ist. Vor hundert Jahren wurden aus dem Osmanischen Reich Nationalstaaten, die heute im Nahen Osten und auf dem Balkan implodieren. Auf den zweiten Blick ließe sich die Gegenwart vielleicht also doch anders deuten als der flüchtige Moment zwischen einer bekannten Vergangenheit und einer ungewissen Zukunft. Hier setzt das Crossover-Projekt „100 Jahre Gegenwart“ im Haus der Kulturen der Welt (HKW) an.
Die Horizonte, die hier überwunden werden sollen, sind räumlicher, aber auch zeitlicher Natur. Und auf der Metaebene schwingt die Frage mit: Wie lässt sich Geschichte neu erzählen? „100 Jahre Gegenwart“ ist ein groß angelegtes Rahmenprojekt, innerhalb dessen ganz verschiedene Fragen weiterentwickelt werden können, auch aus dem vorangegangenen Anthropozän-Projekt des HKW. Damals ging es um die vom Menschen überformte Natur. „100 Jahre Gegenwart“ legt den Fokus dagegen auf die gesellschaftspolitischen Folgen solcher Prozesse: Kriege um Öl, Migration und Flucht, Wohnraum und Big Data. HKW-Ausstellungsmacher Anselm Franke, ein Rising star der Kuratorenszene, hat ein Faible für solche Fragen: „Wie lassen sich die Gewissheiten der Gegenwart durch geschichtliche Zugriffe destabilisieren und kreativ aufbrechen?“ Auch neue Fragen tauchen auf: Handelt es sich beim Cyberspace um einen geschichtslosen Ort?
Das HKW setzt ja ohnehin wie kein anderes Haus der Stadt auf den Dialog von Wissenschaft und Kunst. Diesmal geht es um Beziehungen wie Mensch und Technik, Mensch und Umwelt. „Diese Fragen sind sicher nicht in der Naturwissenschaft allein gut aufgehoben“, findet Franke. Ohnehin ließen sie sich schwierig beschreiben: „Wir haben dafür noch keine stabilen Wörterbücher.“ Diese Sprachen müssten erst entwickelt werden – auch um die Verhältnisse neu politisieren und gesellschaftlich verhandeln zu können.
Im HKW liebt man auch Gedankenexperimente, etwa: Wenn die Zukunft schon durch die Vergangenheit gezeichnet ist, liegt dann nicht die Vergangenheit vor statt hinter uns? Anselm Franke fand ein faszinierendes Beispiel: Für die Aimara im Hochland Perus liegt die Vergangenheit tatsächlich in ihren Sprachbildern „vorne“, die Zukunft „hinten“. Sinn macht das durchaus: Die Vergangenheit liegt im Gesichtsfeld, da man sie schon kennt. Der 100-Jahre-Rahmen ist so breit gebaut, dass er erlaubt, solchen Fragen nachzugehen. „Ich behaupte nicht, dass wir das alles schon beantworten können“, so Franke in philosophischer Demut, „aber wir werden zumindest an Teilen dieser Baustelle in den nächsten vier Jahren arbeiten.“
Und schon der „Auftakt“ spannt in fünf Tagen vom30. September bis zum 4. Oktober interdisziplinär und künstlerisch ein Themenpanorama auf: In Dialogen zu drei Themensträngen geht es am30. September ab 20 Uhr darum, den einhundert Jahren Gegenwart ein poetisches Gesicht zu geben. Da wäre das „Reden aus dem Gefängnis“ heraus als einem nicht ganz naheliegenden Ort, an dem staatliche Konzepte erdacht wurden. Im Dialog geht es dem Schriftsteller Rana Dasgupta und der Künstlerin Alev Adil konkret darum, wie das nationalstaatliche Gefüge Indiens vorformuliert wurde.
Am 1. Oktober folgen die Vorträge „Der kommende Krieg“ mit dem Kunsttheoretiker Laurence A. Rickels und dem Philosophen Michael Feher (ab 18 Uhr) sowie Pepe Escobar and Margarita Tsomou (ab 20 Uhr). Darin wird das beängstigende Szenario unserer Gegenwart als Vorkriegszeit entworfen. Sinnlicher, aber nicht harmloser wird es mit der Zeltstadt-Installation „Dehydriertes Land“ des Berliner Künstlers Reto Pulfer oder bei der Punkrock-Oper „Vincent“ der jungen Band Trümmer.
Für 2016 ist am HKW im Rahmen des Projekts „100 Jahre Gegenwart“ eine Schau über Big Data in Planung. Später sollen Ausstellungen zu National- und Kolonialgeschichte in Asien folgen: „The Art of not being governed“. Katrin Klingan ist verantwortlich für das Technosphere-Projekt, zu dem auch die Dialoge gehören. „Forschung unter Anführungszeichen“, wie Klingan schmunzelnd sagt, denn natürlich sei das gGanze „aus der Perspektive einer Kulturinstitution gedacht“. Es wird um die komplexen ökologischen, menschlichen, technischen Verbindungen und Verschaltungen gehen, mit denen wir zu kämpfen haben – im Idealfall bekommen wir dann in den nächsten vier Jahren am HKW „ein Werkzeug an die Hand“, sagt Klingan, „das uns nicht passiv verharren lässt“. Für die Zukunft also, die wir im Rücken haben.
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