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Der Anti-Establishment-Kandidat

Linksruck Mit 16 las Jeremy Corbyn George Orwell, mit 25 ging er in die Politik und etablierte sich als Parteirebell. Er ist gegen Atomwaffen, gegen Krieg, gegen Rassismus. Nun sagt der neue Labour-Chef der Austeritätspolitik der Regierung den Kampf an

Der frisch gewählte Labour-Chef Jeremy Corbyn am 12. September vor seinen Unterstützern Foto: Andy Rain/dpat

AUS DUBLIN Ralf Sotscheck

Wo er in den vergangenen Wochen in Großbritannien auch aufgetreten ist, waren die Hallen überfüllt. Alle wollten den neuen Labour-Chef und Oppositionsführer sehen, denn an seiner Wahl bestand schon lange kein Zweifel. Seit Samstag ist es offiziell.

Wer ist dieser 66-jährige graubärtige Mann im seniorenbeigen Jacket, der seit mehr als 30 Jahren im Londoner Unterhaus sitzt und nur selten aufgefallen ist? Corbyn ist in Wilt­shire geboren und in Shropshire aufgewachsen. Seine Mutter war Mathelehrerin, sein Vater Ingenieur. Die Eltern hatten sich im spanischen Bürgerkrieg kennengelernt. Zu seinem 16. Geburtstag schenkten sie ihm ein Buch mit Aufsätzen von George Orwell.

Schon während seiner Oberschulzeit war Corbyn in der Labour Party aktiv, mit 15 trat er der Campaign for Nuclear Disarmament bei. Nach seinem Schulabschluss studierte er kurz an der Nordlondoner Fachhochschule, brach das Studium aber nach einem Streit mit einem Dozenten ab. Danach arbeitete er ehrenamtlich für Voluntary Service Overseas bei einem Projekt in Jamaika, nach seiner Rückkehr zwei Jahre später bekam er einen Job bei der Gewerkschaft.

Mit 25 ging Corbyn in die Politik. Er wurde Bezirksverordneter und neun Jahre später Abgeordneter für Islington North. Und das ist er heute noch. Es gibt wohl keine linke Kampagne in Großbritannien, bei der Corbyn keine führende Rolle gespielt hat – gegen Atomkraft und Atomwaffen, gegen Krieg, Rassismus und Apartheid, für Palästina und Venezuela, für Homosexuelle und Nichtsesshafte, für Behinderte und Rentner.

Tony Benn, die Ikone der Labour-Linken, hatte Corbyn kurz nach seinem Einzug ins Unterhaus zu einem Debattierkreis linker Intellektueller eingeladen, die sich jeden Sonntag in Benns Haus trafen. Offenbar sah Benn in dem jungen Abgeordneten seinen natürlichen Nachfolger. Und Corbyn erwähnt in Reden und Interviews immer noch gerne Tony Benn.

Über sich selbst spricht er hingegen gar nicht gerne. Während die Blair-Zöglinge Yvette Cooper, Liz Kendall und Andy Burnham, die gegen Corbyn kandidiert hatten, freiwillig ihr Privatleben offenlegten und die Medien zu sich nach Hause einluden, sagte Corbyn, er hasse „all die persönlichen Fragen nach Hobbys und Freizeitbeschäftigungen“.

Corbyn ist zum dritten Mal verheiratet. Einmal deutete er an, dass die Ehe mit seiner zweiten Frau in die Brüche ging, weil sie einen ihrer drei Söhne auf eine Privatschule schicken wollte.

Dass er Labour-Chef wird, war nicht geplant. Ursprünglich wollte der kleine Haufen linker Labour-Abgeordneter Jon Trickett überreden, zu kandidieren, doch der lehnte ab. Stattdessen sprach dieser Corbyn an. Doch der glaubte nicht, dass er die notwendigen 35 Nominierungen seiner Kollegen erhalten würde. Erst zwei Minuten vor Meldeschluss hatte er sie zusammen – und sie kamen zum Teil von Abgeordneten, die nie die Absicht hatten, ihn zu wählen, sondern den Wahlkampf ein wenig unterhaltsamer gestalten wollten. Margaret Beckett zum Beispiel, die frühere Außenministerin, die genauso lange im Parlament sitzt wie Corbyn, bezeichnete sich selbst nach dessen Wahl zum Labour-Chef als „Schwachkopf“, weil sie ihn nominiert hatte.

Corbyn sagt, er habe der Kandidatur nur zugestimmt, weil er an der Reihe gewesen sei, den linken Prügel-knaben zu spielen

Corbyn sagt, er habe seiner Kandidatur lediglich zugestimmt, weil er nun mal an der Reihe gewesen sei, den linken Prügelknaben zu spielen. Er hoffte, einige Debatten anstoßen zu können – mehr nicht. Doch mit jeder vollen Halle bei seinen Wahlkampfveranstaltungen wuchs sein Selbstvertrauen – und seine Wahlkampfkasse. Sein Team wurde von Simon Fletcher geleitet, dem früheren Mitarbeiter von Ed Miliband, der nach der Wahlniederlage im Mai als Labour-Chef zurückgetreten ist.

Anders als Miliband hat Corbyn der Austeritätspolitik der Tories den Kampf angesagt. „Austerität wird dazu benutzt, um die Gesellschaft umzugestalten und die Ungleichheit zu vergrößern“, sagte er. „Labour muss einen kohärente wirtschaftliche Alternative anbieten.“ Er will in Infrastruktur, Wohnungsbau, Bildung und Gesundheit investieren sowie die Eisenbahn und die Energieversorgung verstaatlichen. Um das zu finanzieren, will er Wohlhabende und Unternehmen stärker besteuern.

Während die ehemaligen Labour-Chefs Tony Blair, Gordon Brown und Neil Kinnock diese Pläne als „Alice-im-Wunderland-Politik“ bezeichneten und Corbyn für unwählbar erklärten, unterzeichneten 41 führende britische Wirtschaftswissenschaftler, darunter ein früheres Mitglied des ­Finanzausschusses der Bank von England, einen Brief, in dem sie die „Corbynomics“ als ­durchaus vernünftig beschrieben.

Damit nahmen sie seinen Gegnern die wichtigste Trumpfkarte aus der Hand.

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