piwik no script img

Deutschland-Premiere: „Open Library“Der Vertrauens-Versuch

Die Bücherhalle in Hamburg-Finkenwerder lässt als erste öffentliche Bibliothek Deutschlands Leser auch dann herein, wenn gar keine Mitarbeiter da sind.

Immer mittwochs in der Bücherhalle Hamburg-Finkenwerder: der erste open access in einer deutschen Kommunal-Bibliothek. Foto: Miguel Ferraz

HAMBURG taz | Das beschaulich-überschaubare Finkenwerder ist ab heute ein Entwicklungs-Hotspot: Dessen kleine „Bücherhalle“, wie die Hamburger Stadtbibliotheken noch immer heißen, als sei die digitale Revolution und der damit einhergehende grundsätzliche Bedeutungswandel von Bibliotheken ein Gerücht aus ferner Zukunft, diese „Bücherhalle“ also hat heute geöffnet. Obwohl die MitarbeiterInnen allesamt frei haben – wie jeden Mittwoch.

Jeder, der seine Nutzerkarte durch das Lesegerät neben der Eingangstür zieht und mindestens 18 Jahre alt ist, kann hinein. Und wenn er nun mit allerlei wieder hinausgeht, das gar nicht für den Leihverkehr vorgesehen ist? Immerhin 11.000 Medieneinheiten liegen hier in einer freundlich gestalteten Regal-Landschaft für die NutzerInnen bereit.

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass hier jemand mit dem LKW vorfährt und sämtliche Bücher einlädt“, sagt Michael Studt, der kaufmännische Leiter der Bücherhallen. Rechner und Bildschirme wurden fest eingebaut und verschraubt, eine offen stehende Kassenschublade signalisiert „hier ist nichts zu holen“, die möglicherweise begehrten Nintendo-Spiele sind während der „open hours“ weggeschlossen. Das große Fragezeichen sei, sagt Studt, ob es – trotz Videoüberwachung – zu Vandalismus komme.

Von der Straße aus ist der helle große Raum gut einsehbar. Für den Öffnungs-Versuch wurde er klarer strukturiert, der Ausleih-Automat durch eine Rückgabebox ergänzt. Neue Möbel sollen für mehr Aufenthaltsqualität sorgen: Skandinavischen Vorbildern folgend verstehen sich Bibliotheken zunehmend als Treffpunkte denn als bloße Ausleih-Stationen.

Bibliothek als Treffpunkt

In Dänemark gibt es bereits weit über 500 öffentliche Bibliotheken, die ihre NutzerInnen zu bestimmten Zeiten allein hereinlassen. Gerade in kleineren dänischen Gemeinden ist die kommunale Bibliothek meist der einzige überdachte nicht-kommerzielle Treffpunkt – und der soll nicht durch begrenzte Arbeitszeiten von BibliothekarInnen limitiert sein.

Hier, in Dänemark, haben sich die Hamburger Bücherhallen-Leute für ihr Experiment inspirieren lassen. Zwei Drittel der DänInnen sind registrierte Bibliotheksbenutzer – in Deutschland ist es kaum ein Zehntel. Das hat viel damit zu tun, dass die dänischen Bibliotheken für ihr Kerngeschäft keinerlei Gebühren erheben – aber eben auch mit Service-Ideen wie der „open library“. Vandalismus, versichern dänische BibliothekarInnen, komme so gut wie nie vor.

Seit gut zehn Jahren sammeln die DänInnen ihre Erfahrungen mit dem offenen Konzept. „Nach einem langen Wochenende sind die Möbel manchmal umgeräumt“, sagt Susanne Gilling, die in einer Vorort-Bibliothek von Aarhus arbeitet, Dänemarks zweitgrößter Stadt. Aber das sei in Ordnung. Allerdings: „Gelegentlich will hier auch jemand übernachten.“

In Finkenwerder bräuchte man einen äußerst ruhigen Schlaf, um in der Bücherhalle dauerhaft schlummern zu können: Die Alarm-Anlage reagiert außerhalb der „open hours“ schon auf leiseste Bewegungen. „Dann kommt ein Sicherheitsdienst und bittet die verspäteten BesucherInnen freundlich nach draußen“, beschreibt Bücherhallen-Sprecher Markus Franke das geplante Szenario.

Schritt für Schritt wollen die Bücherhallen nun weiter experimentieren: Die nächste open library ist für Hamburg-Horn geplant, wo die Sozialstruktur schon deutlich anders ist als in Finkenwerder. Sind „open libraries“ auch ein Lösungsansatz für die viel diskutierte Sonntags-Öffnung, die seit Jahren am Bundesarbeitsschutz-Gesetz scheitert?

Sonntagsarbeit ist verboten

Dieses Gesetz nennt viele Einrichtungen, in denen Sonntagsarbeit in Abweichung vom allgemeinen Arbeitsverbot an Feiertagen erlaubt ist: Tankstellen, Videotheken, Museen und so weiter – und es müsste nur ein einziges Wort in diesem Ausnahmekatalog gestrichen werden, damit Familien endlich dann in die Stadt- und Gemeindebibliotheken dürfen, wenn sie dazu gemeinsam Zeit haben: sonntags. Es ist das Wort „wissenschaftlich“ vor „Bibliotheken“. Uni-Bibliotheken dürfen in Gegensatz zu ihren kommunalen Pendants sonntags selbstverständlich genutzt werden.

Hella Schwemer-Martienßen, die Direktorin der Bücherhallen, hält Sonntags-Öffnungen, so sie denn politisch durchgesetzt werden, nur für die Zentralbibliothek für sinnvoll – und dort sei man in jedem Fall auf präsentes Fachpersonal angewiesen. Apropos: Wie sind die „open libraries“ aus MitarbeiterInnensicht zu beurteilen?

Die BibliothekarInnen in Finkenwerder freuen sich, dass sie nun mittags essen gehen können, ohne zuerst – wie bisher – alle BesucherInnen hinauskomplimentieren zu müssen. Denn auch die bisherigen Mittags-Schließzeiten sind durch das neue System überflüssig geworden.

Vesna Steyer, die Bundesvorsitzende des Berufsverbandes Information Bibliothek (BIB), verweist auf Nachfrage auf die Wichtigkeit der fachlichen Beratung in Bibliotheken und auf die Grundsatz-Problematik, dass „aus guten zusätzlichen Angeboten immer auch Einsparungen ableitbar“ seien. Ihr Verband fordert daher Bibliotheksgesetze, die die Bibliotheksleistungen festschreiben.

Dänemark hat solche Gesetze seit den 1920er-Jahren. Aber Hamburg hat nun immerhin ein Stück dänische Praxis übernommen. Zahlreiche FachbesucherInnen aus der deutschen Bibliotheksszene haben sich bereits in Finkenwerder angemeldet, um das Experiment zu besichtigen. Es ist nicht nur ein Service-Experiment – sondern auch der bewusste Versuch, Vertrauen zu wagen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

2 Kommentare

 / 
  • "Vertrauen wagen, damit wir leben können", das war das Motto des evangelischen Kirchentags in der DDR 1983, der zweitgrößten Veranstaltung ihrer Art, gemessen an der Teilnehmerzahl.

     

    Das war vor 32 Jahren. Seither ist ziemlich viel passiert. Vertrauen ist schon auch im Spiel gewesen. Zumindest punktuell. Vor allem aber haben sich nun offenbar die Leute durchgesetzt, die andern das Vertrauen auszutreiben suchen.

     

    Service-Experiment haben heutzutage ausschließlich der Umsatzsteigerung zu dienen. Der "bewusste Versuch, Vertrauen zu wagen", gilt als fahrlässig, zumindest aber als riskant. Wer ihn unternimmt, muss sich belehren lassen: "Du spielst mit deinem und mit fremder Leute Geld bzw. Leben. Die Welt ist schlecht und jeder will dem anderen schaden. Wer zu naiv ist, beißt ins Gras." Das ist zwar gar nicht wahr (Vertrauensseligkeit macht sich bezahlt, nur halt nicht überall und jederzeit), und nur sehr Wenige sind ganz bewusst brutal, doch sind es grade die, auf die sich alles kapriziert.

     

    Die Medien wirken dann noch als Verstärker. Und so genügt es oft, wenn Einzelne dem Vandalismus frönen, damit ein Test beendet wird. Nach Gründen wird so gut wie nie gefragt. Der Einzelne ist schließlich ein Beweis: Es gibt das grundlos Böse auf der Welt, und deshalb muss es Ritter geben, die Drachen töten – oder Menschen, je nachdem. Wo? Wann? Warum? Ist doch egal! Das Böse ist ja schließlich überall. In Syrien und in der Stadtteilbibliothek, im Kreml, auf dem Spielplatz und selbst im Büro. Sogar zu Hause in der Zweiraumwohnung.

     

    "Misstrauisch sein, damit ihr leben könnt", versuchen Orbán, Schäuble, Seehofer und Co. uns einzureden. Und viel zu viele Leute glauben ihnen nur zu gern. Vertrauen ist, wenn man auf Sicherheiten pfeift – und auf die Leute, die uns Sicherheit verkaufen wollen. Und ist das nicht verdammt riskant? Ich finde: Nein. Im Gegenteil.

  • Aaah ! Bildung, Wohlstand, Lebensqualität, so geht's.