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Lieber Bürgersteig als Heim

SCHLAFEN Der Andrang vor der Erstaufnahmestelle hält an. Genug Übernachtungsplätze soll es inzwischen geben, doch viele Flüchtlinge wollen nicht weit weg in ein „Lager“

Flüchtling Yazan Azzawi (6. v. li.) rappt spontan vorm Lageso gegen den so genannten IS Fotos: Christian Mang

von Uta Schleiermacher

Zwei Doppelstockbusse mit der Aufschrift „Sonderfahrt“ halten Mittwoch gegen 20 Uhr vor dem Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) in Moabit. Vor der Zentralen Aufnahmeeinrichtung für Asylbewerber stehen 150 Flüchtlinge, die noch keine Unterkunft für die Nacht haben. Eine Frau ruft nach einem Mädchen, das Richtung Bus läuft. Sie hat sichtlich Angst, ihr Kind in dem Durch­ein­an­der zu verlieren. Mit Buggy und zwei weiteren Kindern läuft sie hinterher. Familien haben Vorrang, eine Mitarbeiterin der Caritas dirigiert die Familie zum ersten Bus.

„Wir haben ausreichend Kapazitäten, um alle unterzubringen“, sagt Detlef Wagner, ein Lageso-Mitarbeiter, der abends den Transport der Flüchtlinge in die Notunterkünfte mit organisiert, „keiner muss draußen übernachten“. Kurz nach 20 Uhr fährt der erste Bus ab, er bringt mehrere Familien und einige junge Männer in die Notunterkunft in der Köpenicker Allee in Lichtenberg. In den zweiten Bus könnten 40 junge Männer einsteigen – doch viele wollen nicht. Ehrenamtliche Dolmetscher versuchen sie zu überzeugen, doch die meisten wollen lieber vor dem Lageso bleiben. Sie haben Bedenken, dass sie in ein „Lager“ kommen, wie manche sie aus Ungarn kennen, dass sie weit außerhalb untergebracht werden und nicht früh genug wieder in der Warteschlange beim Lageso sein könnten – oder dass sie ihre Fingerabdrücke abgeben sollen.

Lieber nicht in die Kaserne

Mohammad aus Syrien hat eine Art Ausweis für die Schmidt-Knobelsdorf-Kaserne in Spandau. Er ist seit 18 Tagen in Deutschland, eine Woche hat er vor dem Lageso geschlafen. In die Kaserne möchte er nicht zurück. „Was ist, falls morgen meine Wartenummer aufgerufen wird?“, fragt er.

Eine Mitarbeiterin des Lageso sagt, dass er in der Kaserne warten solle, mobile Teams des Lageso würden dort die Registrierung durchführen. Mit dieser Maßnahme soll das Lageso entlastet werden. Bisher sind fünf mobile Teams im Einsatz, die nach und nach die Flüchtlinge direkt in den Notunterkünften registrieren sollen. Doch das kann dauern: Inzwischen gibt es weit über 60 Unterkünfte.

Mohammad ist nun doch bereit, nach Spandau zu fahren. Er bekommt ein BVG-Ticket, den Bus kann er nicht nehmen, der fährt zur Unterkunft Glambecker Ring in Marzahn. Auch in diesen steigen schließlich 30 Flüchtlinge ein, gegen halb zehn fährt er endlich ab. Die Übriggebliebenen rollen neben dem Eingang zum Lageso-Gelände ihre Decken aus. Es kommen Helfer, die einen Tisch aufbauen und Essen und Tee verteilen.

Heute Nacht werden 30 Flüchtlinge draußen schlafen. Ein normaler Abend

Auf dem Bürgersteig spielen immer noch vier Kinder. Ihre Eltern waren letzte Nacht mit ihnen in einer Notunterkunft, waren dort aber nicht zufrieden, erzählen sie auf Kurdisch. Ein anderer Flüchtling übersetzt ins Englische. Sie hätten dort keine Ruhe gehabt und nicht genug zu trinken bekommen.

Schließlich nimmt ein Anwohner, Andrés Ehmann, die Familie mit. Es sei nicht die erste, sagt er. „Wir hatten eine Familie aus Syrien, bei der hat es sieben Tage gedauert, bis sie registriert waren, und die Kinder mussten jeden Tag mitkommen zum Lageso. Die hätten bei uns zu Hause bleiben können und spielen, wenn nicht immer alle dort vorstellig werden müssten“, kritisiert er.

Hundert Meter weiter an einer Bushaltestelle singt eine Gruppe laut syrische Revolutionslieder. Ein Security-Mitarbeiter vom Lageso stürmt hin und herrscht sie an. Sie sollten ruhig sein, sonst rufe er die Polizei. „Es ist 22 Uhr, in Deutschland herrscht jetzt Nachtruhe!“

Die Gruppe sammelt sich kurz darauf wieder um Yazan Azzawi, Flüchtling aus Syrien, der Lieder gegen den sogenannten IS über einen Beat aus seinem Smartphone rappt. Jemand übersetzt: „Er singt: Warum töten sie Frauen und Kinder, wenn sie gläubig sind.“

Irgendwann hält ein Taxi mit mehreren jungen Männern. Aus dem Auto heraus beschimpfen sie drei ehrenamtlich helfende Frauen mit Kopftuch, die Essen und Trinken verteilen und mit den Flüchtlingen reden. „Was seid ihr für Musliminnen, dass ihr Nachts allein auf der Straße seid“, sagen sie. Eine der Frauen erwidert: „Wenn ihr nicht wäret, müssten wir niemandem helfen!“ Die Männer kämen öfter vorbei, erzählen die Frauen – und seien wohl IS-Sympathisanten.

Sonderbusse in die Unterkünfte in Marzahn, Spandau oder Lichtenberg – doch nicht alle wollen einsteigen

Private Schlafstellen

Gegen 23 Uhr kommt Kaja Grabowski. Sie vermittelt seit Wochen Flüchtlinge an verschiedene private Unterkünfte, koordiniert Adressen, Dolmetscher und Fahrer. „Wir gucken jeden Tag, wie viele übrig bleiben, wenn die Busse weg sind“, sagt Grabowski. „Wenn sie kein Formular für eine Unterkunft haben, bringen wir sie privat unter“, erklärt sie. „Viele haben ‚Turmstraße 21‘ in ihren Unterlagen stehen und wissen nicht, dass es nur eine Behörde ohne Schlafplätze ist.“

Heute Nacht werden etwa 30 Flüchtlinge draußen schlafen. Plus diejenigen, die in der Nacht ankommen werden. Ein ganz normaler Abend am Lageso.

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