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Risikokomplex Peak Oil

ROHSTOFFE Auch wenn der Ölpreis gegenwärtig kollabiert: Wir müssen nach 150 Jahren aus der überkommenen Industriestruktur aussteigen

TT Bielefeld
Norbert Rost

betreibt als Wirtschaftsinformatiker das Dresdner Büro für postfossile Regionalentwicklung (Regionalentwicklung.de). Er ist Mitglied des Postfossil Institut/Hamburg. Sein Büro berät Unternehmen, Kommunen und Verbände zu Anpassungsstrategien hinsichtlich Peak Oil.

Von 2011 bis heute habe ich auf Peak-Oil.com analysiert und kommentiert, was zur Ölpreis- und Ölförderentwicklung zu sagen war. Viel Neues kommt da nicht mehr dazu – trotz des aktuellen Niedrigpreises. Klingt nach Kapitulation eines Peak-Oilers in der Billigpreisphase? Mitnichten.

Das Ölzeitalter ist inzwischen 150 Jahre alt und Spotmarktpreise sagen wenig über die Petroleumkultur, in der wir es uns bequem gemacht haben. Mag Öl zeitweise nur 40 oder 20 US-Dollar kosten, vor uns liegt dennoch ein fundamentaler Pfadwechsel: Es kommt die Phase, in der wir aus 150 Jahren Industriekultur, die sich auf fossile Energiequellen stützt, aus- und in ein völlig neues Energie-, Mobilitäts- und Industriesystem umsteigen müssen. Das ist keine „Energiewende“, sondern eine Kulturwende. Dieser Gedanke gefällt nicht jedem, da er Transformationen beinhaltet, die tiefgreifender sind als je ein Wandel in den vergangenen 25 oder 70 Jahren. Und doch wird dieser Wandel kommen: Weil Öl ein endlicher Rohstoff ist.

Fracking unterschätzt

Ja, wir Peak-Oil-Beobachter haben die Fracking-Möglichkeiten unterschätzt. Wir unterschätzen möglicherweise immer noch die Komplexität des Ölbereitstellungssystems, aber an einigen fundamentalen Punkten kommen wir nicht vorbei: Öl darf beispielsweise weder zu teuer noch zu billig sein. Ist es zu teuer, greift es die Wirtschaft der Ölimportländer an und legt ihnen teils unerträgliche Importkosten auf. Ist es zu billig, fahren die Förderer ihre Erkundungsaktivitäten zurück oder halbieren mal eben den Technikeinsatz, wie derzeit im Frack-Land USA. Oder es implodieren die Staatshaushalte, wie derzeit in Russland oder Venezuela. Wer sich hierzulande über Billigbenzin freut, sollte sich vor künftigen Nebenwirkungen fürchten: instabile Ölförderländer. Für globale Stabilität braucht es einen Ölpreis zwischen 80 und 110 US-Dollar, jeder Ausbruch aus diesem Stabilitätskorridor bringt entweder die Produzenten- oder die Konsumentenseite ins Strudeln.

Für mich steckt in dem Begriff von „Peak Oil“ weit mehr als nur die Frage, wann die globale Ölförderung an ihr Limit kommt. Peak Oil steht für einen Risikokomplex in der Energie- und Rohstoffversorgung. Schauen wir uns in unserem Leben um und erkennen unsere kollektive Abhängigkeit: 99,8 Prozent der deutschen Lkw- und Pkw-Flotte wird durch Verbrennungsmotoren angetrieben (Pkw: 98,5 durch Öl, 1,3 Prozent durch Gas; Lkw und Busse: 98,8 Prozent durch Öl, 1 Prozent durch Gas). Die leichte Verfügbarkeit des Rohstoffs hat eine historisch einmalige Pendlerkultur hervorgebracht: Millionen Arbeitnehmer überqueren täglich die Gemeindegrenze und finden das ganz normal. Es gibt Kommunen, in denen 3 von 4 Arbeitnehmern außerhalb arbeiten – die Orte mutierten zu Schlafstädten; während zugleich Zehntausende Unternehmen von der Mobilität ihrer Mitarbeiter abhängen. Unsere Versorgungskultur ist auf den Supermarkt als lokales Verteillager und die Lkw-Flotte als alltägliches Lagerauffüllsystem angewiesen. Ohne ölgetriebenen Lkw geht in diesem Land nichts.

Die Risiken von morgen

Die Petrochemie, globalisierte Wertschöpfungsketten, die Landwirtschaft als Fossilenergie-Nahrungskalorie-Wandler: Wir ignorieren die Risiken gern. Weil Öl ja nichts kostet: 1,40 Euro pro Liter ist billiger als Wein. Anhand der Stadtplanung wird absurdes Denken deutlich: Wer heute Häuser, Straßen und Ortsteile plant, sollte dies eigentlich mit einem Zeithorizont von 40, 60 oder 80 Jahren tun und künftige Mobilität, Heizung und Reparaturen mitdenken – denn so lange werden die heute geplanten Infrastrukturen existieren. Doch Planung erfolgt oft aus überkommenem Blickwinkel: So mancher plant, als ob die heutigen Energiezuflüsse noch in Jahrzehnten vorhanden sein werden und die heutigen Verkehrsströme und Heizmöglichkeiten auch im Jahr 2070 noch existieren, während die aktuelle Billigöl-Preisdiskussion auf Monatsbasis geführt wird. So schaffen wir heute die Risiken von morgen.

Fakt ist: Nie zuvor wurden solche Tagesmengen Öl gefördert wie heute. Eine Rekordernte, dank Fracking und Ölsanden, die seit 2005 fast 800 Millionen Liter Tagesförderung hinzugefügt haben (5 Millionen Barrel) und Kanada aus dem Kioto-Protokoll aussteigen ließ. Aufgrund der vielfältigen Abhängigkeiten vom Öl ist die heutige Rekordfördermenge nicht nur Ausdruck ingenieurtechnischer Meisterleistung, sondern auch ein Maß für die zivilisatorische Fallhöhe.

Fakt ist auch: Europas Ölfördergipfel war 1999. Nur durch ständig steigende Importmengen können wir weiter besinnungslos dem Ölverbrauch frönen. Seit 2003 schrumpft die Förderung, der Selbstversorgungsgrad liegt heute wieder dort, wo er Anfang der 1980er war: Bei etwa 25 Prozent. Konflikte anderswo werden potenziell zu europäischen Konflikten, weil „der alte Kontinent“ sie mit dem Öl importiert. Deutschlands Eigenversorgung liegt bei 2 Prozent, der Import bei 98 Prozent. Russlands Finanzministerium – jeder dritte Ölliter Deutschlands stammt von dort – erwartet den Russland-Peak für 2017. Die Internationale Energieagentur (IEA) erwartet den nächsten US-Peak zwischen 2016 und 2022. Dank der Billigpreise wohl früher.

Dem Ölpreis zum Trotz, der Wandel wird kommen. Schließlich ist Erdöl ein endlicher Rohstoff

Ausbleibende Investitionen

Die IEA kalkuliert 900 Milliarden US-Dollar, die jährlich in die Öl- und Gasförderung investiert werden müssen, um den global steigenden Bedarf zu erfüllen. 900 Milliarden Dollar, die bei einem halbierten Ölpreis doppelt so schwer zu beschaffen sind. Ausbleibende Investitionen von heute sind die Ölknappheit von morgen. 900 Milliarden bedeuten auch eine Investition in noch mehr Treibhausgase: Aus diesem Blickwinkel müsste man ja eigentlich dafür plädieren, den Stoff im Boden zu lassen.

Das wurde in den vergangenen Jahren alles schon gesagt. Und es gilt weiterhin: Eine Phase billiger Ölpreise sollte nicht als Einladung missverstanden werden, die Konsumkultur noch eine Windung weiterzudrehen, sondern den zwischenzeitlichen finanziellen Spielraum als Atempause zu nutzen, um endlich ein adäquates Risikomanagement zu installieren: Global, national und lokal. Mag der globale Peak auch noch ein wenig hin sein – die Risiken steigen, auch wenn die Preise sinken. Norbert Rost

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