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Musiker Wer ist dieser Teodor Currentzis, der als Wunderknabe unter den jüngeren Dirigenten gilt? Im September kommt er nach DeutschlandDer Probenfanatiker aus Perm

von Regine Müller

Perm ist übersät mit Fahnen und Plakaten, die den Sieg über Nazideutschland vor 70 Jahren feiern. Das heroische Soldatengesicht neben der Friedenstaube ziert sogar Imbissbuden und die Erfrischungstücher der Aeroflot. In der östlichsten Millionenstadt Europas gibt es im Straßenbild immerhin eine Konkurrenz: die Plakate des Diaghilev-Festivals, das den russischen Ballett-Impresario feiert, der in Perm am Ural geboren wurde.

Seit 2011 leitet Teodor Currentzis das Festival, seit er auch Chef des Permer Opern- und Balletttheaters ist. Currentzis gilt als der Wunderknabe unter den Dirigenten der jüngeren Generation. Sein Werdegang ist ganz buchstäblich abseitig. Der gebürtige Grieche begann sein Studium in Athen, ging aber dann nach St. Petersburg und studierte dort bei dem legendären Ilja Musin. Seither ist Russland seine künstlerische Heimat.

Von 2004 bis 2010 war er Chefdirigent in Nowosibirsk, wo sein Wirken bereits auffiel. Denn dort gründete er sein eigenes Orchester MusicAeterna und spielte CDs ein, die mit ihrer radikalen Intensität Furore machten. Currentzis entfesselt etwa bei Mozart eine ganz neue Dramatik und Schärfe, leuchtet detailversessen in die Tiefe und schert sich nicht um musikalische Konventionen. Egal was Currentzis und seine Truppe anfassen: Alles klingt aufregend neu, spannend und sowohl emotional als auch intellektuell mitreißend. Kein Wunder, dass er neulich sogar im Gespräch war als Chefdirigent der Berliner Philharmoniker.

Diese Idee findet er lächerlich: „Ich habe die Berliner nie dirigiert, wer kommt auf so eine Idee?“ Currentzis ist kein Jetsetdirigent, der kurz einschwebt und mit zwei, drei Proben jedes beliebige Spitzenorchester dirigiert. Currentzis ist ein Probenfanatiker, ein Detailpuzzler mit Marathonkondition, die er auch seinen Ensembles abverlangt. Dabei wirkt er eher weich, nachdenklich, schwärmerisch. Der schlaksige, stets schwarz gekleidete Exzentriker bittet auf das Sofa in seinem Dienstzimmer, das mit Seidentapete, goldverzierten Samtvorhängen und Kronleuchter an einen plüschigen Salon des 19. Jahrhunderts erinnert. Currentzis sinkt auf dem Sofa entspannt in die Kissen.

Was zieht einen Griechen nach Russland? „Die Länder haben tatsächlich vieles gemeinsam: Die guten und die schlechten Seiten sind sehr ähnlich. Was mich an Russland besonders fasziniert, ist die völlig andere Art, sich der Realität zu nähern. Ich liebe das. Die russische Seele gibt es wirklich! Wir haben viele Schwierigkeiten hier, aber ich könnte mir meine Entwicklung in einem anderen Land so nicht vorstellen.“

Vor dem Gespräch hat er die erste Probe für Mahlers Fünfte geleitet. Das Orchester passt kaum hinein in die Handballhalle, in der geprobt werden muss, weil das Permer Opernhaus aus allen Nähten platzt. Die abgenutzte Sportstätte befindet sich in einem Kulturpalast im schönsten Stalin-Zuckerbäcker-Stil, zehn Minuten mit der rumpelnden Tram vom Opernhaus entfernt. In der Probenpause kommen Musiker an sein Pult, diskutieren einzelne Stellen. Er legt den Arm um sie, der enge persönliche Kontakt ist Currentzis wichtig. Man hört, dass die Proben oft in Festgelage münden. Arbeit und Leben sind eins in dieser Stadt, von der Currentzis sagt: „Die Musiker kommen nicht wegen der Stadt. Sie kommen, weil sie hier so wie nirgendwo sonst Musik machen wollen.“

Currentzis hat sich in Russland ein eigenes Imperium aufgebaut. Sein MusicAeterna-Orchester nahm er mit nach Perm. Unter der Bedingung, dass das in Perm ansässige Orchester weiter besteht und beschäftigt wird. Bei MusicAeterna sitzen Russen einträchtig neben Spitzenmusikern aus Köln und Paris.

Der Mann fürs Reale am Permer Opernhaus ist Geschäftsführer Marc de Mauny, ein in Paris geborener Brite im Tweed­anzug mit Fliege. Er und Currentzis kennen sich seit über 15 Jahren aus St. Petersburg, wo de Mauny Gesang studierte. Auch Ballettchef Alexei Mi­rosch­ni­tschen­ko kommt von dort: „Wir sind die St.-Petersburg-Connection“, amüsiert sich de Mauny. Als er 2011 Perm anfing, standen die Zeichen auf Tauwetter: „Der Gouverneur, der uns hierhin gebracht hat, war ein sehr liberaler Mann. Er hatte die clevere Strategie, in Kunst und Kultur zu investieren.“

Inzwischen wurde Gouverneur Oleg Tschirkunow abgelöst, die Verschärfung der politischen Situation in Russland hat auch Perm zu spüren bekommen. Currentzis, sein Opernhaus und seine Ensembles blieben verschont, bislang. Die Unsicherheit stört Currentzis nicht, auch seine Musiker müssen mit Einjahresverträgen leben. „Was bedeutet Sicherheit in der Kunst? So wenig wie in der Liebe!“

Currrentzis redet viel von Anarchie, dann wieder springt er zu den Mönchen auf dem Berg Athos und vergleicht deren Gesellschaft mit seiner in Perm, in der er sich als „Erster unter Gleichen“ begreift: „Ich bin hier, weil ich ein Exil brauche. Ich brauche diesen Ort, um neue Regeln aufzustellen.“

Vor dem Gespräch hat er die erste Probe für Mahlers Fünfte geleitet. Das Orchester passt kaum hinein in die Handballhalle, in der geprobt werden muss. Man hört, dass die Proben oft in Festgelage münden

Die neuen Regeln betreffen auch sein Repertoire, das irritierend groß ist. Es beginnt bei Rameau und endet noch lange nicht bei Schostakowitsch. Stil­grenzen haben für ihn keine Gültigkeit, aber seine Basis ist die historisch informierte Arbeitsweise. Er nimmt sich dabei heraus, das Ergebnis offenzulassen: „Wenn ich herausfinde, dass ich zu einem Werk nichts Besonderes zu sagen habe, mache ich das Stück nicht. Was ich brauche, ist die Inspiration und die Liebe, die plötzlich entsteht, wenn du eines Morgens aufwachst und genau weißt, was du zu tun hast!“

So spontan wie seine Arbeitsweise ist auch die Planung. In Perm gibt es keine festgelegten Probenpläne. Meistens wird erst am Vortag entschieden, was am nächsten Morgen geprobt wird. Undenkbar für ein hiesiges Tariforchester. Wenn er jetzt im September in Deutschland bei der Ruhrtriennale mit „Rheingold“ seinen ersten szenischen Wagner aufführen wird, nimmt er sein Orchester mit. Die Musiker werden in Wohnwagen übernachten und wie immer sehr, sehr lange proben.

Currrentzis sagt: „Ich nenne es für mich: ‚Rheingold‘, ein ­Prolog zum Ende der Musik. Es ist mehr als eine Oper, es ist ein Projekt, das einen neuen Raum des Verstehens zu kreieren versucht. Bislang ist Wagner eine Art negative Religion. Ich aber möchte Wagner eben nicht als Religion sehen, sondern als politischen, revolutionären Komponisten und Gestalter der Gesellschaft.“

Wer sonst wäre besser geeignet, die „negative Religion“ Wagners umzudeuten zu einem modernen Mythos, als der griechisch-russische Anarchist vom Ural?

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