: Er, sie, es
von Friederike Gräff
Er weckt das Kind, das Kind tappt zu ihr, sie stellt sich einen Moment schlafend. Die Nacht war mäßig, viele Nächte sind es, Schlaf ist kostbares Gut. Es ist ein Donnerstag, Donnerstags frühstücken sie zusammen, an anderen Tagen bricht er meist schon um halb acht zur Arbeit auf.
Sie nimmt Papier und einen Stift und geht ins Kinderzimmer, wo er das Kind anzieht. Sie malt den Umriss des Kinderfußes auf den Zettel, 14,8 Zentimeter, weil das Kind neue Hausschuhe bekommen soll – die Nachbarinnen von unten haben gesagt, dass das Gerenne über ihrem Kopf sehr laut ist. Sie sagten es freundlich, aber seitdem fühlt sie sich wie auf Widerruf in der Wohnung.
Morgens
Er stellt Müslischalen auf den Tisch, das Kind steigt auf seinen Hochstuhl. „Ich war wie ein rettender Engel in der Nacht“, sagt er zu ihr, weil er nachts das Kind übernommen hat, das einen Aufstand machte, weil es die blaue und nicht die gelbe Flasche in seinem Bett vorfand. Im Radio wird von einer Autobombe, die der IS in Bagdad gezündet hat, berichtet und dann von neuen Kitastreiks. Das Kind bestreitet weitgehend die Unterhaltung, „Du bist ein Quatsch-Schmetterling“, sagt es zu ihr, „ich bin ein Hirsch und fresse dich“. Das Kind will wissen, ob der Herr die Marienkäfer wieder heil macht. Der Herr ist wohl Gott.
Sie machen sich fertig, dann gehen sie los. Das Kind nimmt einen Regenschirm mit, obwohl es nicht regnet, und lässt sich überreden, nur einen statt drei Schnuller einzupacken. Sie braucht etwas länger mit allem, winkt noch vom Balkon, geht dann auch, merkt unten, dass sie am Abend zuvor vergessen hatte, ihr Fahrrad abzuschließen, es steht noch da. Auf dem Weg nimmt ihr ein Müllauto schnittig die Vorfahrt, ein paar Meter weiter liegt rechts das Café, in das sie an freien Tagen gern geht.
Kurz vor dem Haus der Zeitungsredaktion, in der sie arbeitet, kommt er ihr auf der anderen Straßenseite entgegengeradelt. „Viel Glück“, schreit sie rüber. Er hat ein Treffen mit den PR-Leuten einer Start-up-Internetfirma, für die er eine Unternehmensbiografie schreiben soll. Es sind drei Chefs, einen von ihnen kennt er, weil der bei ihm im Bioladen einkauft. Der Bioladen ist Broterwerb, die Biografie wäre Kür, weil das Start-up-Unternehmen so gut zahlt, dass er sich frei nehmen könnte, um an anderen Texten zu schreiben. Er schreit etwas Unverständliches über die Straße zurück und winkt.
Sie geht nicht zur Konferenz, weil sie mit zwei Texten weiterkommen sollte, außerdem muss sie die Reportage für Montag organisieren, mittags hat sie einen Arzttermin und um halb vier muss sie das Kind aus der Kita abholen. Einer der Texte handelt vom Prozess gegen einen SS-Mann, der in Italien ein Massaker an Kindern und Frauen mitzuverantworten hat, und davon, warum die Justiz die Anklage so lange verschleppt hat, bis der Mann 93 Jahre alt ist und, so scheint es derzeit, verhandlungsunfähig. Sie findet das Thema interessant, wie oft bleibt manches in der Schwebe: Hat der eine Politiker wirklich einmal gesagt, dass die Staatsanwaltschaft zu langsam sei und dann, als er Justizminister war, alles abgesegnet? Und wie ist es mit dem Staatsanwalt, konnte er allen Ernstes annehmen, dass das Massaker ungeplant und damit kein Mord, sondern Totschlag war? Man bräuchte mehr Zeit, um das herauszufinden, aber Zeit ist knapp.
Sie braucht lange für die Organisierei, dann radelt sie zur Praxis, wartet eine Stunde, vor ihr ist eine Frau dran, die einen auffälligen Befund hatte, wird die Ärztin ihr später sagen. Sie hat die Frau gesehen, als sie aus dem Untersuchungsraum kam und fragt sich jetzt, ob ihr etwas anzumerken war. Sie kauft sich eine türkische Pizza in dem Laden, in dem sie früher häufiger war. „Lange nicht dagewesen“, sagt der Verkäufer, sie freut sich darüber und wundert sich, warum so sehr. „Wie geht es?“, fragt er, „gut“, sagt sie, „und selbst?“. „Der Laden läuft gut“, sagt er.
Sie ist erst spät wieder in der Redaktion, schreibt noch ein paar E-Mails, um viertel vor vier radelt sie zur Kita, spät, wie fast immer. Das Kind sitzt neben der Kindergärtnerin und gluckst, es hat ihr Handy und tut so, als würde es fotografieren. „Wir kaufen ein Eis und gehen auf den Spielplatz“, verspricht sie, das Kind fragt, ob es das Eis mit auf den Spielplatz nehmen darf, „ich spiele dann los“, sagt es euphorisch. Vorher gehen sie noch in einen Messerladen, dort werde man ihre Nagelschere reparieren, hieß es im Haushaltswarenladen, aber der Mensch im Messerladen ist skeptisch, solche Nuten hätten sie nicht, sagt er. „Es ist schade, man muss die Dinge einfach wegschmeißen“, sagt sie, da ändert er seine Meinung, sechs Euro soll es kosten, und wenn es nicht funktioniert, gar nichts. In der Drogerie kauft sie noch eine Haarschneideschere, die Nagelscheren daneben kosten dort sechs Euro, und sie hält das Kind davon ab, eine Trinkflasche, eine Pralinendose und eine Haarbürste zu kaufen. Sie ist erleichtert, dass das Kind nicht brüllt, und befremdet über diese Erleichterung.
Nachmittags
Das Kind auf dem Fahrradsitz stellt Fragen und Fragen und Fragen: Warum liegen dort Scherben, warum läuft der Hund dort allein, warum sagst du danke? „Danke“, hat sie gesagt, weil die Autofahrer ihr den Weg abgeschnitten haben, sie ist kein Ausbund an Fröhlichkeit im Straßenverkehr, hoffentlich übernimmt das Kind nicht das Schmallippige daran, denkt sie.
Auf dem Spielplatz ist es voll, das Kind drängt zum Planschbecken. Es ist sehr besorgt, dass die anderen Kinder seinen Eimer, das Schildkröten- oder das Elefantenförmchen nehmen könnten. „Ist doch egal“, sagt sie und ärgert sich, weil sie mit den gleichen Argusaugen wie das Kind verfolgt, wer die blöde Kröte nimmt.
Um halb sieben will das Kind nicht nach Hause, auch nicht um kurz nach halb sieben und auch nicht danach. Sie geht alleine los, wartet hinter der Ecke und hört schon von Weitem das aufgeregte Schreien. „Du bist meine Mutter“, sagt das Kind und klammert sich an ihren Arm.
Beim Abendessen trinken sie Apfel-Beeren-Schorle, das ist Luxus, und beim fast letzten Schluck fragt das Kind: „Und Papa?“, es gibt einen Schluck ab, dafür schmeißt es im Bett erst den Löwen heraus, haut dann die Puppe Käthe Kruse, wirft die nächste raus und schreit nach einer neuen. Die Tür geht auf, er kommt nach Hause. „Soll ich dich ablösen?“, fragt er, weil er weiß, dass sie noch einen Text schreiben muss. Das Kind klammert sich an sie, als würde es an Menschenhändler verkauft.
Sie setzt sich an den Schreibtisch, das Schreien des Kindes wird nicht leiser, er kommt mit ihm auf dem Arm, damit es noch einmal gute Nacht sagen kann. „Wann hast du sie ins Bett gebracht“, fragt er, „sie ist völlig drüber.“ „Ist das jetzt hilfreich“, sagt sie. Dann schreibt sie weiter. „War das ein guter Tag?“, hatte sie das Kind beim Insbettbringen gefragt, aber das Kind wollte nur eine neue Puppe.
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