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Schlimmer kann es immer werden

Langzeitdoku Die Geschichten, die der Filmemacher Gerd Kroske in seiner „Kehraus“-Trilogie über Leipziger Straßenkehrer erzählt, sind packender als jedes ausgedachte Drama

Gerd Kroske erzählt in „Kehraus, wieder“ von gesellschaftlichen Konditionen und Menschen Foto: realistfilm

von Silvia Hallensleben

Das Etikett „Langzeitdokumentation” ist populär, derzeit werden schon Dokumentarfilme von gerade einmal einem halben Jahr Drehzeit gerne als solche beworben. Das ist nicht ganz daneben, schließlich ist alles relativ und die heutigen Produktionsbedingungen oft bis zur Schmerzgrenze verknappt, so dass ein über zehn Jahre laufendes Filmprojekt wie Nikolaus Geyrhalters „Über die Jahre” eine große Ausnahme darstellt.

Lieber investiert man da in einmalige Film-Events wie „24 h Berlin“. Anders war das zu DDR-Zeiten, als fast alle an einem Film Beteiligten bei der Defa fest angestellt waren, Zeit keine Ware und die Dokumentation erzielter gesellschaftlicher Fortschritte ein lobenswertes Ziel. So entstanden ausladende Dokumentarprojekte wie Volker Koepps Wittstock-Filme oder – am bekanntesten – „Die Kinder von Golzow” von Barbara und Winfried Junge, der fast ein halbes Jahrhundert umspannt.

Melancholischer Kurzfilm

Einen Zeitraum von knapp über zehn Jahren fasst auch Gerd Kroskes sogenannte „Kehraus“-Trilogie. Dabei war die zu Beginn gar nicht auf Dauer angelegt. Ganz im Gegenteil entstand der erste Film aus einem fast tagesaktuellen Anlass. Denn Kroske, der damals für das Defa-Dokumentarfilmstudio arbeitete, war zu Recherchen zu den Montagsdemos nach Leipzig gefahren. Daraus ging der gemeinsam mit Andreas Voigt realisierte Film „Leipzig im Herbst” hervor, der nur wenige Wochen später bei der Leipziger Dok­woche Uraufführung hatte.

Es entstand aber auch die Idee zu einem Kurzfilm über Leipziger Straßenkehrer, die Kroske bei ihrer damals noch komplett per Hand betriebenen Tätigkeit aufgefallen waren. „Kehraus” hieß der melancholisch poetische Schwarzweiß-Kurzfilm, der die „Pauschalarbeiter mit spröden Leben”, wie Kroske sie später einmal nennen wird, bei ihren nächtlichen Einsätzen zwischen Kohl’schen Jubelreden, westdeutschen Bierständen, ihrer karg eingerichteten Einsatzzentrale und der Bahnhofskneipe begleitete. Kurze Interviews zum Privatleben gab es auch.

Eine Zeit des Transits. Als sich Kroske sechs Jahre später für „Kehrein, kehraus“ wieder mit seinen Helden traf, war aus dem VEB Stadtreinigung das Stadtreinigungsamt Leipzig geworden und aus den Handbesen Kehrmaschinen. Die Pauschalisten gab es gar nicht mehr. Und im Hintergrund hämmern die Presslufthammer auf den Baustellen. „Schlimmer kann es ja nicht werden“ hatte einer von ihnen in „Kehraus“ gesagt, damit aber nicht Recht behalten.

Denn hatten die bar auf die Hand gezahlten 50 Mark für eine Nacht 1990 noch für eine ganze Monatsmiete gereicht, änderte sich das bald gründlich. Stefan etwa verlor nicht nur seine Arbeit, sondern auch die Wohnung, und lebt bei einem Kumpel von Sozialhilfe und ein paar Blumensträußen, die er am Straßenrand verkauft. Auch die anderen haben keine Arbeit mehr, die sozialen Kontakte sind auf den gemeinsamen Kneipenbesuch geschrumpft. Überhaupt ist der schon vorher omnipräsente Alkohol zum Selbstzweck geworden.

Die sozialen Kontakte sind auf den gemeinsamen Kneipenbesuch geschrumpft

Das bleibt nicht ohne Folgen: Als Kroske zur Jahrtausendwende noch einmal zum Drehen kommt, sind zwei seiner Protagonisten schon verstorben, ein dritter verbringt im betreuten Wohnen seine Tage vor dem Bildschirm. So kommen mit den Vertretern städtischer Institutionen und Ämter auch neue Rollen ins Spiel, während Kroske sein formales Repertoire – in Anerkennung des seriellen Formats – um ein selbst gesprochenes Resümee und vorsichtigen Musikeinsatz erweitert. Dazu sind – wie auch in „Kehrein, kehraus” immer wieder Ton- und Bilddokumente aus der Vergangenheit montiert, die historische Tiefe geben. Kroskes Interesse ist seh- und hörbar von Anteilnahme für seine Protagonisten getrieben.

Im Werk des 1958 in Dessau geborenen und zuletzt mit Filmen wie „Heino Jaeger – Look before you guck” und „Striche ziehen” im Kino präsenten Filmemachers zeigen die „Kehraus”-Filme schon früh das bis heute virulente Anliegen, ­zugleich von den gesellschaftlichen Konditionen zu erzählen wie von den Menschen, die in ­ihnen stehen. Die Geschichten, die dabei erzählt werden, sind packender als jedes ausgedachte Drama, aber auch großartiges historisches Studienmaterial.

Zum Glück unterliegt Kroske nie der Versuchung, mit der Kamera eingefangene und in den Film montierte Beobachtungen metaphorisch zu überladen. Die neuen kapitalistischen Glitzerwelten sehen wir, aber nur im Hintergrund. Das Modekaufhaus, das einmal Kino war. Oder der Afroshop im ehemaligen Dispatcher-Zentrum der Straßenkehrer. So benötigen die Filme einige Aufmerksamkeit des Zuschauers, erlauben heute aber einen selten offenen Blick auf die frühen Jahre des vereinigten Deutschland und die Genese heutiger Befindlichkeiten.

„Kehraus” und „Kehrein, kehraus” am 28. 8., 20 Uhr, „Kehraus, wieder” am 29. 8., 20 Uhr, Zeughauskino

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