: Von Oldenburg lernen
NEUE MUSIK Das Netzwerk für Neue Musik im Nordwesten, Klangpol, bringt die Lange Nacht der Musik nach Bremen. Das bedeutet: rund 40 Konzerte bei freiem Eintritt
von Andreas Schnell
„Kürzer kann ich es nicht sagen: Alle Musik ist zu lang“, schrieb Dietmar Dath in einem kürzlich veröffentlichten Aufsatz ganz apodiktisch zu Beginn. Was zunächst, wenn auch geradezu fahrlässig verkürzt, bedeutet: Sie entzieht uns dem täglichen Geschäft. Und hielte uns damit auch davon ab, jetzt nur so als Beispiel, die Welt zu verändern.
Allerdings beendet Dath seine Überlegungen mit dem schönen Satz: „Musik muss zu lang sein, damit es eine Kunst gibt, die uns immer wieder daran erinnert, dass wir uns nicht damit abfinden dürfen, dass das Leben für Freiheit zu kurz ist.“ Indem uns also die Musik ein Stück Freiheit raubt, weil sie zunächst ganz absolut darauf besteht, dass für den Moment außer ihr nichts ist, ermöglicht sie ein Bewusstsein genau davon. Dass sie dies auch tun kann, indem sie diese Erfahrung möglichst kurz hält, ist kein Widerspruch. Eine Komposition wie „You Suffer“ von der britischen Hardcore-Band Napalm Death, die, wenn es hoch kommt, gerade mal eine Sekunde dauert, weist in dieser Zeit umso dringlicher darauf hin, dass weder Kunst noch Leben allzu viel Zeit haben.
Die „Lange Nacht der Musik“, die in diesem Jahr erstmals in Bremen stattfindet, spiegelt das Problem in gewisser Weise auf mehrere Weisen wider. Da wäre zum einen das Problem, dass Neue Musik bis heute eine Aura des Unzugänglichen umgibt. Verkopft sei sie, anstrengend. Um dieser möglichen Anstrengung zu begegnen, greift das Konzept, das in Oldenburg bereits erfolgreich etabliert wurde (am 20. Juni lockte die dritte Ausgabe rund 5.000 Menschen an), zu einer Politik der kleinen Schritte. Rund 40 Einzelkonzerte ermöglichen einen Abend lang auch behutsame Annäherungen, der tendenziell informelle Rahmen überlässt es seinem Publikum, ob es so viel wie möglich oder lieber so wenig wie nötig anhört. Und dann ist das mit der Neuen Musik schließlich auch relativ. Das Programm führt neben zeitgenössischen Komponisten und Komponistinnen Namen wie Franz Liszt und Maurice Ravel und neuere Klassiker wie Steve Reich, John Cage und Krzystof Penderecki, führt also bei Bedarf langsam an den Stand der Kunst heran. Und auch die freie Improvisation ist beispielsweise durch das fabelhafte Bremer Kollektiv KLANK vertreten, das gleich mehrere Sets spielt und zum Abschluss des Abends im K‘ – Zentrum Aktuelle Kunst zum „Mitspielen oder Zuhören ohne Regeln für jedermann und -frau“ einlädt, basierend auf der postmodernen Losung, „dass es nach dem 20. Jahrhundert kein falsch mehr gibt“.
Berührungsängste können so allmählich abgebaut werden. Sollte es gar keine geben, eröffnet sich ein ganz anderes Problem: Die rund 40 Konzerte sind bei aller jeweiligen Kürze beim besten Willen nicht alle zu schaffen. Sie sind eben nicht nur ein jedes für sich, sondern erst recht in summa zu lang. Was uns daran erinnern mag, dass vielleicht nicht nur jegliche Musik zu lang ist. Was bei Dath übrigens auch meint, dass es bereits einfach zu viel Musik gibt, um sie in einem Menschenleben zu hören. Auch dass es schön wäre, in diesem Leben mehr Zeit für Musik zu haben.
Es dürfte indes weniger dieser Überlegung geschuldet sein, dass etliche Positionen dieser langen Nacht interdisziplinär angelegt sind. Als begehbare Klanginstallation beispielsweise ließe sich der Lautsprecher-Parcours zwischen Kunsthalle und Goetheplatz auch verstehen als: Bloß keine Sekunde ohne Musik! Vielmehr ist diese Einrichtung wie auch die „Fieldrecordings und Fakes“, die unter dem Titel „Tiermusik“ hinter der Kunsthalle erklingen, oder der Film „Abgedreht“, der um 21.30 Uhr im Noon im Kleinen Haus zu sehen ist, Nachweis dafür, wie durchaus sinnlich zeitgenössische Musik sein kann.
Entgegen aller Klischees von zergrübelten Best Agers, die bei maximal einem Schoppen Rotwein den Materialstand kennen und das Gehörte daran abgleichen, wirkt die „Lange Nacht der Musik“ entsprechend inklusiv, wie Reinhart Hammerschmidt, als Performer wie als Klangpol-Netzwerker involviert, zu berichten weiß. Bunt gemischt sei das Publikum, neugierig und im besten Fall mitgerissen von den Möglichkeiten und Vorgehensweisen der Neuen Musik. Die, wie auch das vor wenigen Wochen in Bremen stattgefundene REM-Festival erneut zeigte, längst nicht mehr nur in akademischen Sphären stattfindet, sondern in den letzten Jahren durch Strategien, die im weitesten Sinne aus Pop und Jazz kommen, neue Impulse erfahren hat. Weshalb auch Gabriele Hasler, vom Jazz her kommend, der Alten Musik ebenso zugewandt wie der freien Improvisation, ihren Platz in dieser Nacht hat wie das Ensemble New Babylon.
Insofern ließe sich sagen: Alle Musik mag zu lang sein. Diese Nacht allerdings ist eher zu kurz. Aber sie kann Anstöße geben, die weit über sie hinausweisen. Und das, so viel Materialismus sei gestattet, bei freiem Eintritt.
Samstag (heute), ab 19 Uhr, zwischen Unser Lieben Frauen Kirche und K‘ – Zentrum Aktuelle Kunst, das Programm im Internet auf www.klangpol.de
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