Kommentar: Zu früh gekommen

Für Volker Kauder (CDU) war der Fall des in der Türkei inhaftierten Marco sofort klar. Auch die Kanzlerin findet: Der arme Junge muss "schnell nach Hause". Und die Türkei? Darf nicht in die EU.

Es gibt Beamte im Auswärtigen Amt, die sich Gedanken gemacht haben. Die das taten, was umsichtige Diplomaten in heiklen Fällen tun. Als die ersten überregionalen Medien berichteten, dass ein 17-jähriger Deutscher in der Türkei im Gefängnis sitzt, weil er ein 13-jähriges englisches Mädchen sexuell missbraucht haben soll, überlegten die Mitarbeiter des Außenministers gründlich, wie die Bundesregierung auf diese Meldungen angemessen reagieren könnte. Wer sie fragte, hörte Bedächtiges: Natürlich wollten sie dem inhaftierten Landsmann helfen, erklärten die Beamten. Man könne um Haftverschonung "bitten". Aber es wäre falsch, Forderungen an die türkische Justiz zu stellen. "Es geht uns nicht darum, auf das Gericht Einfluss zu nehmen", betonte der Sprecher des Außenministers. Das wäre "unbotmäßig".

Recht hatte er. Die Unabhängigkeit der Justiz zu achten, ist ein rechtsstaatliches Prinzip und eine der wichtigsten Aufnahmebedingungen, die von der EU an den Beitrittskandidaten Türkei gestellt werden. Normalerweise. Als weitere Voraussetzung für den EU-Beitritt wird normalerweise oft genannt, die Türkei müsse den Schutz von Frauen und Mädchen vor sexuellen Übergriffen sicherstellen, entsprechenden Tatvorwürfen ernsthaft nachgehen. Im Fall von Marco und seiner Urlaubsbekanntschaft Charlotte aber ist längst nichts mehr normal. Aus dem nächtlichen Zusammentreffen zweier Teenager in einer türkischen Clubanlage am Mittelmeer ist eine Dreiländerstaatsaffäre geworden. Das liegt nicht nur an den Boulevardmedien, die vor dem Gefängnis in Antalya, in dem Marco sitzt, ebenso viele Kameras postieren wie auf dem Schulweg von Charlotte in Manchester. Für die völlig übersteigerte Wahrnehmung, die der Fall erfährt, gibt es vor allem einen Grund: die einseitige Parteinahme hochrangiger PolitikerInnen, die Marco nur als Opfer und die Türkei nur als mittelalterliches Schreckensland darstellen.

Obwohl immer noch völlig unklar ist, was zwischen Marco und Charlotte genau passierte und obwohl die Familie der Engländerin ihre Strafanzeige aufrechterhält, wissen die höchsten deutschen Politiker genau, was die türkischen Behörden nun gefälligst zu tun haben. Sie sollen den Jungen nicht nur frei-, sondern nach Deutschland heimkehren lassen - und zwar schleunigst. Die klugen Mahnungen zur Vorsicht aus dem Außenministerium verhallten beim eigenen Chef Frank-Walter Steinmeier und dessen Chefin Angela Merkel ungehört. Es interessierte sie offenbar wenig, was die Mitarbeiter geraten hatten: Also diskret um Hafterleichterungen zu bitten, eine Freilassung auf Kaution anzuregen, ansonsten aber zu akzeptieren, dass die türkische Justiz ihre Arbeit tut - und den Ausgang des Gerichtsverfahrens abzuwarten, bei dem es um den Verdacht einer Tat geht, die auch in Deutschland strafbar wäre. Alles egal. Die Kanzlerin höchstpersönlich sagte am Mittwochabend im ZDF, es sei jetzt in erster Linie wichtig, Marco aktuell zu helfen, "damit er schnell wieder nach Hause kommt".

Es wäre interessant, was Merkel, ihre Minister und insbesondere ihre CDU-Parteifreunde sagen würden, wenn der Fall umgekehrt gelagert wäre. Wenn die Mutter eines 13-jährigen deutschen Mädchens in der Türkei Anzeige erstattet hätte. Wenn dieses deutsche Mädchen erklärt hätte, es sei in seinem Hotelzimmer im Schlaf bedrängt und mit Sperma bespritzt worden. Von einem Engländer - oder, gar nicht auszudenken, von einem Türken. Hätte es dann ausgereicht, wenn der Tatverdächtige gesagt hätte, ihm tue alles leid - er habe die 13-Jährige für 15 gehalten und er sei davon ausgegangen, dass sie Sex wollte? Würden Unionspolitiker für die sofortige Freilassung eines englischen oder türkischen Verdächtigen plädieren, der Spermaspuren mit der mitleiderregenden Auskunft erklärt, er sei "zu früh gekommen"? Eher unwahrscheinlich.

Sicher ist nur, was Unionsfraktionschef Volker Kauder im Fall Marco der türkischen Justiz mitteilte: "Wenn ihr den jungen Mann nicht freilasst, dann ist der Weg der Türkei nach Europa noch meilenweit." Und es lässt sich unschwer ahnen, worum es ihm geht. Um jeden Preis zu zeigen: Die Türkei ist nicht EU-reif. Ob diese Strategie aufgeht, ist offen. Nach den belastenden Aussagen Charlottes nannte Bild am Donnerstag nicht mehr den deutschen Jungen, sondern das englische Mädchen ein "Opfer". Auch das mag falsch sein. Wir wissen es nicht. Aber vielleicht ist Kauder mit seinen Vorurteilen ja doch - zu früh gekommen.

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