die wahrheit: Keine Schonzeit für Biker
In den Alpen wehren sich Jäger und Fallensteller gegen die Landplage Motorrad.
Timmelsjoch, Splügen, Jufenen, Stilfser Joch - Namen, die das Herz des Automobiltouristen himmelwärts hüpfen lassen. Es sind Meisterwerke der Straßenbaukunst, die den Reisenden über schwindelerregende Serpentinen in die Höhen des ewigen Eises hinaufschrauben, die die Überquerung der Alpen zu einem atemberaubenden Schauspiel machen.
Die steilen Rampen entlang jäher Abgründe, an denen in den Fünfzigerjahren die DKWs und Goggos der ersten Italienurlauber den Geist aufgaben, wo hinter jeder Haarnadelkurve eine aufgeklappte Motorhaube von akuter Überhitzung kündete, bilden keine nennenswerten Herausforderung für neuzeitliche Motorentechnik mehr. Dafür aber eine Herausforderung ganz anderer Art: Dort, wo der mit offenen Sinnen reisende Automobilist in stiller Einkehr die glitzernden Firnfelder des Hochgebirges betrachten oder andächtig dem Brunftschrei der Murmeltiere lauschen will, röhren heute dick verpackte Biker-Kohorten vorbei.
Die Fahrer mit ihren schweren Maschinen sind zur Landplage geworden. Die kindliche Freude am Aufheulen ihrer Motoren macht jede Alpenfahrt für den Nicht-Biker zur Tortur. Keine Ruhe, nirgends. Da wo der Wildbach rauscht, stets man der Honda lauscht. Die Drehzahl-Junkies auf ihren Kawasakis und BMWs haben die Herrschaft über die Traumstraßen der Alpen übernommen.
Doch nicht überall sind die "Elefanten der Landstraße" willkommen. Widerstand gegen die Motorradplage regt sich mittlerweile in mancher Alpengemeinde. So ist sie zum Beispiel für Urs Burger ein regelrechter Alptraum. Der Schreinermeister aus der Schweizer Gemeinde Brig kann sich schon lange nicht mehr über die in den Sommermonaten wie eine Heuschreckenplage in die Alpentäler einfallenden Biker-Kolonnen freuen. Gastwirte, die mit "Biker Willkommen"-Schildern die Zweiradtouristen auch noch zur Einkehr auffordern, versteht er gleich gar nicht. "Sicher ist es verständlich, wenn einer mit diesen Fat Boys seinen Umsatz steigern will, aber er sollte doch bedenken, dass er damit die anderen Gäste vergrault." Der bedächtige Eidgenosse, in seiner karg bemessenen Freizeit ein begeisterter Jäger und Fallensteller, hat den Kampf gegen den allgegenwärtigen Motorenlärm zu seiner Lebensaufgabe gemacht. "Aber Sie glauben gar nicht, wie schwierig es ist, einen Motorradreifen zu treffen, wenn diese Wahnsinnigen mit 150 Sachen über unsere Straßen rasen." Deshalb legt sich der vierfache Vater vorzugsweise an Haarnadelkurven auf die Pirsch, wo die Fahrer stark abbremsen müssen und ein sauberer "Plattschuss" leichter zu setzen ist.
Dass die Kantonalregierung jetzt vor den kurzfristigen Geschäftsinteressen der Tourismusindustrie eingeknickt ist und für die Sommermonate eine Schonzeit für Biker ausgerufen hat, schmeckt Burger allerdings gar nicht. Der giftgrünen Kawasaki, die gerade an ihm vorbeidonnert, hätte er liebend gern mit seiner doppelläufigen Schrotflinte die Luft aus den Reifen gepustet, doch seit der Einführung der Schonzeitregelung sind dem bodenständigen Naturfreund die Hände gebunden.
Lange Zeit waren er und seine Gesinnungsgenossen geschockt, wie gelähmt mussten sie dem schamlosen Treiben der Biker tatenlos zusehen - bis, ja bis ihnen "Ingenieur Zufall" zu Hilfe kam. Der im Juni fertiggestellte Lötschberg-Basistunnel, mit 34,6 Kilometern drittlängster Eisenbahntunnel der Welt, war ursprünglich zweigleisig geplant. Doch mitten in den Bauarbeiten dämmerte den Schweizern, dass sie eigentlich nur ein Gleis brauchten, und sie stoppten den Bau der zweiten Röhre. Und so kommt es, dass ein Drittel der zweiten Röhre, im Rohbau fertiggestellt, blind im Berg endet. Eine skurrile Bauruine, an deren Fertigstellung heute niemand mehr denkt. Ein Umstand, den Urs Burger für seine Zwecke auszunutzen gedenkt. Der findige Briger plant, den Röhrentorso einer neuen Bestimmung zuzuführen. Gemeinsam mit seinen Freunden arbeitet er fieberhaft an der Ausschilderung einer neuen "Alpen-Erlebnisstrecke" für eilige Vollgas-Junkies. "Der Lötschberg-Bikertunnel erlaubt Geschwindigkeiten bis weit über 200 Stundenkilometern. Ohne Beleuchtung, ohne Kurven und garantiert ohne Gegenverkehr. Mal sehen, wie viel Verrückte wir da hineinlotsen können. Wenn es genug sind, machen wir vorne den Deckel drauf und genießen in aller Ruhe das herrliche Alpenpanorama."
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Trump erneut gewählt
Why though?
Harris-Niederlage bei den US-Wahlen
Die Lady muss warten
Pro und Contra zum Ampel-Streit
Sollen wir jetzt auch wählen?
Pistorius stellt neuen Wehrdienst vor
Der Bellizismus kommt auf leisen Sohlen
Abtreibungsrecht in den USA
7 von 10 stimmen „Pro-Choice“
Protest in Unterwäsche im Iran
Die laute Haut