Neue Zeugen: Fall Kurnaz wird neu aufgerollt
Neue Zeugen sollen über die Vorwürfe gegen Bundeswehr-Soldaten aussagen. Der Oberstaatsanwalt schließt eine Anklage nicht mehr aus.
BERLIN taz Die Bundesregierung hat sich zu früh gefreut. Ganz so schnell wie erhofft kann sie den Fall des ehemaligen Guantánamo-Häftlings Murat Kurnaz doch noch nicht abhaken. Dabei sah bis zum Montagabend alles danach aus, als würde das Schicksal des Deutschtürken in Vergessenheit geraten - und die Regierung hatte nichts dagegen
Als im Mai die Ermittlungsverfahren gegen zwei Bundeswehrsoldaten eingestellt wurden, die im Verdacht stehen, Kurnaz in einem US-Lager in Afghanistan misshandelt zu haben, sagte ein Sprecher des Verteidigungsministeriums erleichtert: "Wir begrüßen die Entscheidung." Die Bundeswehrführung war stets von der Unschuld ihrer Soldaten ausgegangen, die sämtliche Vorwürfe bestritten hatten.
Nun aber wird die Justiz erneut tätig, weil der Anwalt von Murat Kurnaz, Bernhard Docke, neue Zeugen aufgetrieben hat. Er nannte der zuständigen Staatsanwaltschaft Tübingen drei Personen, die sich zur fraglichen Zeit Anfang 2002 im US-Lager Kandahar aufgehalten haben sollen. Auch die Staatsanwaltschaft meint, dass sie zur Aufklärung beitragen können. Falls eine Befragung substanziell neue Erkenntnisse bringt, könnten zwei Soldaten des Kommandos Spezialkräfte (KSK), die damals in Kandahar als Wachleute eingesetzt waren, wegen gefährlicher Körperletzung im Amt vor Gericht gestellt werden. Kurnaz hatte ausgesagt, er sei geschlagen und getreten worden.
"Eine Anklageerhebung ist nicht auszuschließen, sonst hätten wir die Ermittlungen nicht wieder aufgenommen", sagte Oberstaatsanwalt Walter Vollmer der taz. Schon im Mai, als er den Fall zunächst zu den Akten legte, hatte er betont, der Verdacht gegen die Soldaten sei keineswegs ausgeräumt. "Letzte Zweifel sind geblieben", erklärte der Staatsanwalt nun. Die bisherigen Ermittlungsergebnisse hätten jedoch nicht gereicht, um mit Aussicht auf Erfolg Anklage zu erheben. Zu Kurnaz Vorwurf sagt er: "Es kann so sein, es kann anders gewesen sein, wir wissen es nicht."
Auch Details sind höchst umstritten. So berichtete Kurnaz, er sei hinter einem Lastwagen misshandelt worden. Die befragten Soldaten erklärten, in dem fraglichen Lagerbereich seien gar keine Lastwagen gewesen. Schon deshalb könne nicht stimmen, was Kurnaz behaupte. "Dazu könnten die Zeugen etwas sagen", so Vollmer. "Dass sie etwas zum eigentlichen Tathergang sagen können, erwarte ich eher nicht. Letztlich geht es um ein Indiz und um die Glaubwürdigkeit der bisherigen Aussagen."
Zwei Personen, die Anwalt Docke nannte, sollen ehemalige Mitgefangene von Kurnaz sein, die heute in England leben. Vollmer will ein Rechtshilfeersuchen an die britischen Behörden stellen, um Kontakt mit ihnen aufnehmen zu können. Bei der dritten Person mit Adresse in den USA sei dies eher aussichtslos. Schließlich habe man bisher bei allen Anfragen an die USA "überhaupt keine Informationen bekommen".
Links lesen, Rechts bekämpfen
Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!