Integration: Über die Sehnsüchte von Straßenkindern
Junge Russen und Deutsche beschäftigen sich gemeinsam mit dem Alltag von Straßenkindern. Ergebnis ist ein aufregendes Theaterstück.
Der Staubsauger brummt laut über den Bühnenteppich, vom Keyboard klimpert eine zarte Melodie. Beide Geräusche verweben sich in dem abgedunkelten Raum zu einem ungewohnten Klang. Plötzlich durchschneidet die strenge Stimme der russische Regisseurin Tatjana Tarasova die Luft. Dann zieht sie kräftig an ihrem langen Zigarettenhalter. Auf die rauchigen Russisch-Salven folgt eine deutsche Mikrofonansage der Dramaturgin Ruth Wyneken, die die Akteure auf die Bühne bittet. Deutsche, russische und englische Wortfetzen wirbeln durch die Luft. Dennoch herrscht keine Kakophonie - die deutschen und russischen Jungschauspieler, die sich mit dem Theaterprojekt "Nach Hause" auf der Suche nach der Bedeutung von Heimat und Kindheit sind, haben eine "gemeinsame Sprache gefunden", sagt Tarasova.
Die Premiere von "Nach Hause" findet heute um 20 Uhr im "Theater 89" in der Torstraße 216 statt. Weitere Vorstellungen am 25., 30. und 31. August und am 1. September. Vom 12. bis zum 17. September spielt das Ensemble in Moskau.
Die letzten Vorbereitungen für die Premiere heute im Theater 89 laufen auf Hochtouren. Für das Stück, in dem alle Akteure in ihrer jeweiligen Muttersprache sprechen, haben sich Berliner wie russische Schauspieler mit dem Leben und den Sehnsüchten von St. Petersburger Straßenkindern beschäftigt. Unter Wynekens Leitung sind 20 junge Menschen im Alter von 13 bis 26 Jahren zusammengekommen, um zunächst drei Wochen in Moskau und dann vier Wochen in Berlin zu proben. "Es war wichtig, dass wir in beiden Ländern arbeiten", sagt Wyneken, die seit 20 Jahren im deutschen und russischen Theater tätig ist.
Tarasova und Wyneken, beide Theaterwissenschaftlerinnen, wollen mit ihrer binationalen Inszenierung des Stückes von Ludmila Rasumowskaja auf der Bühne zwei parallele Welten erschaffen: Dem brutalen Alltag der Straßenkinder wird eine poetische Traumwelt gegenübergestellt. Gleichzeitig aber verbinden sie dadurch zwei Welten: Russland und Deutschland.
Der 19-jährige Alexander Zemlyanskiy ist Schlagzeuger und kennt als Russlanddeutscher beide Seiten. Bis er zwölf war, wohnte er in Moskau, dann kam er nach Berlin. "Wir sind in diesen sieben Wochen in unserer Theatergruppe schon wie eine richtige Familie geworden", erzählt der junge Mann mit den lockigen Haaren, der fließend Russisch, Deutsch und Englisch spricht. Seine Augen strahlen, und vom Trommeln haben sich kleine Schweißperlen auf seiner Stirn gebildet. Als Hobby-Musiker ist er einer der wenigen in der Gruppe, für die die Theaterbühne noch Neuland ist. Selbst die zwei 13-jährigen russischen Jungs haben schon jahrelange Bühnenerfahrung und seien "absolut professionell und diszipliniert", so Wyneken.
Die anfänglichen Kommunikationsprobleme seien sehr schnell überwunden worden, berichtet Zemlyanskiy. Er ist hier auch fürs Dolmetschen zuständig. Dabei verschwimmen die Nationalitäten schon so sehr, dass er manchmal versehentlich in die falsche Sprache übersetzt. "Wir brauchen zwar viel mehr Zeit, weil durch die Übersetzung manchmal die Intimität beim Arbeiten verloren geht", erzählt Tarasova. "Mittlerweile sind wir aber so weit, dass wir einander auch über Mimik und Gestik und manchmal sogar durch Gedankenübertragung verstehen."
Zur Vorbereitung für das Stück hat die Schauspielerin Sophie Eckerle eine Feldstudie gemacht. Die 26-jährige Freiburgerin hat Berliner Straßenkinder nach ihren Wünschen und Hoffnungen gefragt, um sich besser in die Lebenswelt ihrer Figur einfühlen zu können. "Die meisten haben ihre Probleme sehr heruntergespielt. Sie konnten ihren Schmerz nicht zeigen, weil es sie sonst zerrissen hätte", erzählt die schlanke Frau, die in der Rolle der Zhanna von einem warmen Pelzmantel träumt. Eckerle, die seit Februar in Berlin lebt, hat in der deutsch-russischen Gruppe eine Art Zuhause finden können.
"Keiner kann den Themen Kindheit, Liebe und Zuhause gleichgültig gegenüberstehen", erklärt Regisseurin Tarasova. Durch die Auseinandersetzung mit dem persönlichen Zuhause, also dem Ort der Geborgenheit, ist die Gruppe zu so etwas wie dem lebendigen Beweis ihrer These geworden. "Die Suche nach einem Zuhause vereint die Menschen, aber jeder muss versuchen, eine individuelle Antwort zu finden", so Wyneken.
Tenor des Stückes und Maxime des Zusammenlebens in der Gruppe ist: Der Wunsch nach Geborgenheit kennt keine Landes- oder Altersgrenzen. "Es geht beim Zuhause nicht um einen bestimmten Ort, sondern vielmehr um den Wunsch nach Zufriedenheit und Ruhe", sagt Zemlyanskiy.
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