Fachkräftemangel: Gefangen im Schweinezyklus
Wirtschaft und Regierung sind selbst verantwortlich für den Mangel an Fachkräften, den sie jetzt beklagen. Denn sie bilden zu wenig aus.
BERLIN/DIEMELSEE taz Der Boom ist da, und die deutsche Wirtschaft - jammert. Nachdem sie jahrelang kaum neue Mitarbeiter eingestellt hat, gibt es nun einen Mangel an geeigneten Fachkräften. "Schon 2014 könnten je nach Konjunktur bis zu 95.000 Ingenieure und bis zu 135.000 Naturwissenschaftler fehlen", heißt es in einer internen Analyse des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, die der taz vorliegt.
Nun schmeißt die Bundesregierung kurzfristig Notprogramme an - sie will zum Beispiel Elektro- und Maschinenbauingenieure aus Mittel- und Osteuropa importieren. Zudem sollen ausländische Studierende nach dem Studium leichter in Deutschland bleiben können. "Dies wird wohl auf einen Einstieg in ein Quotensystem hinauslaufen, wie es in den USA oder Kanada schon praktiziert wird", vermutet Gerd G. Wagner, Wirtschaftswissenschaftler an der Technischen Universität Berlin. "Zuwanderung wäre dann für fehlende Fachkräfte auch ohne Arbeitsvertrag möglich. Knappheitsgesteuerte Zuwanderung hat der Zuwanderungsrat übrigens schon 2004 vorgeschlagen."
Aber auch die heimische Fachkräfteproduktion will die große Koalition wieder anwerfen - durch eine "nationale Qualifizierungsoffensive". Die Bundesregierung möchte die Schulabbrecherzahlen von zuletzt 78.000 bis zum Jahr 2010 halbieren. Die Weiterbildungsquote soll auf 50 Prozent (bisher 41 Prozent) steigen. Absolventen des dualen Systems sollen studieren können. 40 Prozent eines Jahrgangs will sie so an die Hochschulen locken - derzeit seien es 35,3 Prozent.
Die Qualifizierungsoffensive gibt freilich keine Antwort darauf, wie in den Schlüsselfeldern des Bildungssystems Fachkräfte entstehen sollen: Im dualen System, bei den Studienanfängern und der Finanzierung der Studierenden gibt es massive Probleme - die allesamt hausgemacht sind.
Beispiel Ausbildung: Obwohl die Wirtschaft dank des kleinen Aufschwungs derzeit viele Lehrlinge einstellt, ist die Lücke auf dem Azubimarkt riesig. 213.000 Jugendliche suchten zuletzt noch eine Lehrstelle. Die hohe Zahl resultiert aus den vielen "Altbewerbern". Sie fanden in den letzten Jahren keinen Ausbildungsplatz und landeten in schulischen Warteschleifen.
Beispiel Studienanfänger: Die Bundesregierung ist stolz, dass sie bereits knapp an der Zielmarge von 40 Prozent Studienanfängern ist. Doch die Zahl von 35 Prozent, die derzeit verbreitet wird, ist in Wahrheit geschummelt. Die Quote der Erstsemester aus dem eigenen Land liegt nur bei 31 Prozent. Das Hochschulinformationssystems (HIS) in Hannover hat herausgefunden, dass die zugewanderten Studienanfänger einfach zu den eigenen Studienanfängern hinzugezählt wurden. "Wir sind also viel weiter weg von unserem Ziel, 40 Prozent Studienanfänger eines Jahrgangs, entfernt, als wir bislang angenommen haben", sagte die HIS-Forscherin Elke Middendorf, die ihre Zahlen gestern auf der Wissenschaftskonferenz der GEW in Diemelsee (Hessen) präsentierte.
Beispiel Hochschulpakt: Die Qualifizierungsoffensive der Bundesregierung enthält keinerlei Informationen über die Finanzierung des Studierendenhochs, das der Bundesrepublik bevorsteht. Günstigerweise drängen bald fast 400.000 Studienanfänger in die Hochschulen. Das Problem ist: Sie finden dort kaum Studienplätze - weil das Geld fehlt. Der Hochschulberater Detlef Müller-Böhling hat errechnet, dass die Finanzierung der erhöhten Studiennachfrage bis 2020 rund 15 Milliarden Euro kosten würde - zusätzlich. Der Hochschulpakt, mit dem Bund und Länder Mittel dafür freimachen, stellt aber nur kümmerliche 1,13 Milliarden Euro bereit, und er reicht bislang nur bis zum Jahr 2010. Die Präsidentin der Hochschulrektorenkonferenz Margret Wintermantel wünscht sich deshalb, dass die Qualifizierungsoffensive beim Hochschulpakt nachbessert. "Um den erfreulichen Studentenberg zu finanzieren, brauchen die Hochschulen jährlich 2,3 Milliarden Euro mehr."
"Ohne konkrete Finanzierung bleiben die Maßnahmen der Offensive eine Luftnummer", meinte auch Dieter Dohmen, Direktor des Forschungsinstituts für Bildungs- und Sozialökonomie. Die Zahl der Studienberechtigten steige zwar. Jedoch sind die Hochschulen in Deutschland schon jetzt hoffnungslos unterfinanziert. "Die Hochschulen sind überhaupt nicht für mehr Studierende ausgestattet", sagt Dohmen.
Durch den Bologna-Prozess, die Umstellung der Hochschulen auf Bachelor und Master, steigen die Kosten pro Studienplatz sogar noch. Mehr Geld bekommen die Universitäten aber trotzdem nicht. Da Bachelor-Studierende mehr Leistungsnachweise bringen müssen, werden eigentlich mehr Dozenten für die Betreuung gebraucht. Die können aber wegen Geldmangel nicht eingestellt werden. De facto sinken also die Studienplatzkapazitäten an den Hochschulen, während sie doch steigen sollten. "Um die erwünschte Quote von 40 Prozent Studienanfänger pro Jahrgang zu erreichen, müssten die Studienplatzkapazitäten fast um die Hälfte erhöht werden", meint Bildungsökonom Dohmen.
Das Ärgerliche ist, dass der Fachkräftemangel alles andere als eine Überraschung ist. Es ist noch gar nicht so lange her, da standen Ingenieure in Deutschland auf der Straße. Der Wechsel von Mangel und Überfluss hat einen Namen, Schweinezyklus nennt man das. In manchen Jahren wird fast jeder von der Straße weg eingestellt. Dann wird geworben. Die Studenten aber, die auf diese Werbung reagieren, müssen Jahre später auf andere Berufsfelder ausweichen - selbst wenn sie Einserkandidaten sind.
Den Schweinezyklus gibt es auch bei Ingenieuren. "Es ist keine zwei oder drei Jahre her, da haben konservative Politiker verkündet, der Akademikermangel sei Unsinn", sagt Klaus Klemm, Bildungsforscher an der Universität Duisburg-Essen. Dennoch wird es nun einige Jahre dauern, bis ein Werben für den Ingenieursberuf erste Früchte tragen kann. Wirtschaftswissenschaftler Wagner setzt auf drei Anreize: hohe Arbeitsplatzsicherheit, die Möglichkeit, gutes Geld zu verdienen - und einen besseren Unterricht in den naturwissenschaftlichen Fächern schon in der Schule.
Die Chancen für eine schnellen Umbau des Bildungswesens stehen schlecht. Dem Wirtschaftsboom wird kein Studentenboom folgen können. Die Wirtschaft wird wohl weiterhin jammern.
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