Gerichtliches Streikverbot: "Das Urteil sollte keinen Bestand haben"

Der Heidelberger Arbeitsrechtler Thomas Lobinger kritisiert das teilweise Streikverbot des Arbeitsgerichts Chemnitz: Bei stundenweisen Streiks drohen keine unverhältnismäßigen Schäden.

Ausgeliefert: Der Vorsitzende der Gewerkschaft der Lokführer, Manfred Schell, am Donnerstag im Chemnitzer Arbeitsgericht. Bild: dpa

taz: Herr Lobinger, das Arbeitsgericht Chemnitz hat den Lokführerstreik teilweise verboten. Nur im Nahverkehr darf gestreikt werden, nicht aber im Fern- und Güterverkehr. Eine richtige Entscheidung?

Thomas Lobinger: Nein, die "unverhältnismäßigen Schäden", die das Arbeitsgericht befürchtet, sehe ich nicht. Es wurden ja keine unbefristeten, sondern nur stundenweise Streiks angekündigt. Auch die Gewichtung des Gerichts überzeugt nicht. Es wiegt doch wirtschaftlich schwerer, wenn hunderttausende Pendler nicht zur Arbeit kommen, als wenn der Fernverkehr mal stockt. Das Urteil sollte in der nächsten Instanz keinen Bestand haben.

Ist es ein Novum, dass Richter die Verhältnismäßigkeit von Streiks prüfen?

Dass ein Streik den Arbeitgeber nicht vernichten darf, gilt schon immer. Aber darauf achtet eine Gewerkschaft ohnehin, sie will ja nicht, dass ihre Mitglieder den Arbeitsplatz verlieren.

Was ist mit den Schäden bei Dritten und der Allgemeinheit?

Wenn im Krankenhaus gestreikt wird, muss natürlich im Interesse der Patienten ein Notdienst eingerichtet werden. Und bei einem Streik der Müllfahrer darf der Abfall nicht so lange rumstehen, bis Seuchen drohen. Gefahren für Leib und Leben müssen also vermieden werden, aber ansonsten war schon immer klar, dass ein Streik auch Dritte beeinträchtigt. Das gehört ja zum Druckpotenzial dazu.

Zum Beispiel wenn ein Kfz-Zulieferer bestreikt wird und irgendwann auch dessen Kunden, die Autokonzerne, Probleme bekommen?

Genau. Doch auch das reguliert sich meist selbst. Wenn der Zulieferer zu lange bestreikt wird, kauft der Autobauer seine Teile anderswo auf dem Weltmarkt und wechselt vielleicht den Lieferanten dauerhaft. Auch hier darf die Gewerkschaft im Interesse der Arbeitsplätze nicht überziehen.

Und bei einem Bahnstreik?

Da fehlt eine derartige natürliche Bremse. Es wechseln vielleicht ein paar Bahnfahrer aufs Auto, aber weil die Bahn faktisch ein Monopol hat, fällt der Wettbewerb als Korrektiv weg. Die Bahn ist damit erpressbarer, weil die Gewerkschaften rücksichtsloser streiken können.

Früher waren die Lokführer überwiegend Bahnbeamte, die durften nicht streiken

Eben. Es hatte schon seine Logik, dass die Bahn ein Staatsbetrieb war. Wenn man sich die volkswirtschaftlichen Risiken eines Streiks nicht leisten will, dann wäre die glatte Lösung, die Bahn nicht zu privatisieren.

Die Bahn ist aber auf dem Weg zum normalen Unternehmen, es gibt deshalb immer mehr streikberechtigte, weil angestellte Lokführer

Doch, echten Wettbewerb gibt es immer noch nicht. Da kann ich durchaus nachvollziehen, dass Gerichte jetzt meinen, sie müssten die Interessen der Allgemeinheit wahrnehmen und Streiks bei der Bahn auf Verhältnismäßigkeit prüfen.

Sind einzelne Arbeitsgerichte mit so komplexen Fragen nicht überfordert?

Ich fürchte: ja. Darauf deutet nicht nur das Beispiel Chemnitz hin. Anfang August hat das Arbeitsgericht Nürnberg die Bahnstreiks während der Hauptreisezeit ganz verboten und lag damit noch mehr daneben.

Wenn einzelne Arbeitsgerichte überfordert sind, stellt sich die Frage nach Alternativen zur Richterkontrolle. Worin sähen sie welche?

Ich halte es für erwägenswert, dass vor einem Streik bei einem Monopolunternehmen von volkswirtschaftlich existenzieller Bedeutung zwangsweise ein Schlichtungsverfahren durchgeführt werden muss. Anders als bei der jetzt gescheiterten "Moderation" mit Biedenkopf und Geißler legt ein Schlichter einen eigenen Vorschlag vor. Meist entsteht in der Öffentlichkeit dann großer Druck, diesen Vorschlag anzunehmen. So könnte mancher Streik vermieden werden.

INTERVIEW: CHRISTIAN RATH

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