Meyerhoff im Wiener Burgtheater: Nordwestliches Nirwana
Der Schauspieler Joachim Meyerhoff erzählt sein Leben in einer schillernden Mischung von Fakt und Fiktion. Bei seinem Soloabend "Alle Toten fliegen hoch"-
Spätestens seit der Auszeichnung zum Schauspieler des Jahres ist Joachim Meyerhoff kein heimlicher Star mehr. Am Wiener Burgtheater, wo er seit zwei Jahren fest engagiert ist, sieht man ihn auf der großen Bühne oder im Akademietheater, kleiner geht eigentlich nicht mehr. Trotzdem oder gerade deshalb hat er sich jetzt einen Soloabend in der kleinsten Spielstätte der Burg gegönnt. Im Vestibül im linken Seitenflügel des mächtigen Hauptgebäudes zeigt man vor maximal sechzig Zuschauern gelegentlich neue Dramatik oder hauseigene Schauspielgrößen mit kleinen Projekten. Ignaz Kirchner liest aus den Briefen Vincent van Goghs, Philipp Hochmair monologisiert Kafkas "Der Prozess", und immer wieder gern wird dort auch musiziert und gesungen.
Joachim Meyerhoff geht einen Schritt weiter als die Kollegen - oder auch nicht: Er erzählt von sich selbst. In früheren Tagen hat Meyerhoff immer dann zu eigenen Projekten gegriffen, wenn er als Schauspieler nicht ganz zufrieden war, sich in mittelmäßigen Rollen plagte oder eine "Überprüfung" des eigenen Theatertuns anstand. Nun ist er in Wien aktuell alles andere als unzufrieden - und doch wieder interessiert am Ausprobieren. Allerdings geht es nicht mehr darum, den eigenen Resonanzraum zu vergrößern. Wer in Paraderollen - etwa als Ariel in Barbara Freys Inszenierung des "Sturm" oder als Benedict in Jan Bosses Inszenierung von "Viel Lärm um nichts" - die Burg bespielt, muss sich um Aufmerksamkeit nicht sorgen - sondern um den kalkulierten Rückzug ins fast Private.
Mit seiner mehrteiligen Reihe "Alle Toten fliegen hoch" versucht sich Meyerhoff in dieser Saison als autobiografischer Erzähler. Das tut er nicht zum ersten Mal. In Berlin, Hamburg und Zürich hat er bereits Varianten ausprobiert. Mit Nähkästchenplaudereien hat das nichts zu tun. Akribisch skizziert er Erinnerungen und entwirft Geschichten, für die der Vierzigjährige als sein eigener Zeuge einsteht. Deshalb ist das Ganze auch kein Hörbuch, sondern ein Theaterabend, aus dem irgendwann vielleicht einmal ein Roman wird.
Zunächst aber setzt sich der große, schlaksige Meyerhoff auf einen zu kleinen Salonsessel, links neben sich ein Beistelltisch mit fein sortierter Briefpost, rechts neben sich eine Vitrine, in der sich ein schmutziggrüner Wollpullover dreht. An die Wand werden alte Fotografien projiziert - weite Landschaften und Bilder aus dem Schuljahrbuch, die schnell klar werden lassen: Hier geht es um die 80er-Jahre. Wann sonst wurden so unbedarft solche Frisuren wie auf den Fotos getragen?
Mit "America" ist der erste Teil der Reihe überschrieben, der von Meyerhoffs Austauschjahr in den USA berichtet und dabei das Ende der Unschuld erzählt. Kalifornien, New York, Chicago - ins gelobte Land will der 18-Jährige aus Schleswig und landet in einer strenggläubigen Gastfamilie außerhalb von Laramie, Wyoming. Im nordwestlichen Nirwana hört er die Wölfe heulen, vergnügt er sich bei Orgien in mobilen Whirlpools im Schnee der Rocky Mountains und trifft skurrile Figuren wie Parker, den Basketballtrainer mit der Vorliebe für Schäferhunde und kantige Kommandos auf Deutsch, oder Coach Schuhmacher, der Selbstbewusstsein als Schulfach unterrichtet. Mit dem Coach geht es schließlich auch zum Sightseeing ins Staatsgefängnis, wo der Teenager im Todestrakt einen Deutschamerikaner trifft, der ihm bald ausufernde Briefe schreibt.
Meyerhoff gibt dem Zuhörer gerade so viele Details, dass seine Geschichten plausibel erscheinen, aber unverifizierbar bleiben. Ruhig, fast schon lakonisch und doch plaudernd liest er seinen Text vor, und nur schleichend ahnt man, dass man es hier mit einem virtuos unzuverlässigen Erzähler zu tun hat. Immer wieder holt Meyerhoff Artefakte hervor, etwa einen zerknitterten Zettel mit der Adresse des Todeskandidaten oder dessen Briefe, um das Erzählte zu bestätigen. Mit Lockenperücke, Sonnenbrille, Jeansjacke und Jogginghose stellt er eines der projizierten Fotos nach und holt schließlich den grünen Pullover aus der Vitrine, ein Kleidungsstück seines Bruders, der während des Auslandsjahres bei einem Autounfall stirbt.
Mit diesen Irritationen verschiebt sich die leicht erzählte Geschichte unmerklich in einen Spannungszustand. Überall scheinen Tote zu lauern. Hinter den lustigen Storys über amerikanische Absurditäten blitzt lebenserfahrene Melancholie auf. Dabei hat man längst aufgegeben, Fakt und Fiktion trennen zu wollen, und sich auf die Kunstfigur Meyerhoff eingelassen. Erst als sich ein schüchterner älterer Mann mit Cowboystiefeln, abstehenden Ohren und Glatze erhebt und freundschaftlich als ebenjener briefschreibende und irgendwann begnadigte Doppelmörder begrüßt wird, stellt sich ziemlich authentische Beklemmung ein. Sehr wahrscheinlich ist der Mann ein Statist, aber der charmante Erzähler Meyerhoff hat in Zusammenarbeit mit dem Theatermacher Meyerhoff und dem Schauspieler Meyerhoff einen abschüssigen Geschichtenreigen eröffnet, der Lust auf mehr macht - und auch ein wenig Angst.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!