Drei Ausstellungen im Kunstverein Wolfsburg: Der zweite, genauere Blick

Schon einmal gezeigte Werke in neuen Kontexten: "Green Dreams", "Japan und der Westen" sowie "Araki, Miyamoto, Sugimoto: Japanische Fotografie der Gegenwart".

Der im Licht nur so funkelnde 12-Tonnen-Truck der New Yorker Müllabfuhr zog auf der diesjährigen Armory Show alle Blicke auf sich. Tatsächlich war die Karosserie des Kolosses, der den Messestand von Ronald Feldman Fine Arts zu sprengen schien, nahtlos mit Spiegeln verblendet. Auf den ersten Blick wirkte Mierle Laderman Ukeles "Social Mirror" wie eine besonders schicke, bombastische Vanitas-Installation. Nur ihr Entstehungsdatum 1983 hätte den einen oder anderen Messebesucher stutzig machen können. Die internationalen Kunstflaneure in ihrer teuren Designergarderobe, gespiegelt durch die Müllentsorgung - wie konnte dieses Stillleben von zweifellos infamen Reiz schon vor einem knappen Vierteljahrhundert entstanden sein? Verdiente es nicht einen zweiten, genaueren Blick?

Ein halbes Jahr später erlaubt die Ausstellung "Green Dreams" im Kunstverein Wolfsburg eben diesen zweiten, genaueren Blick. Auf zwei Monitoren laufen "Sanmans Place" und das "Waste Flow Video", zwei knapp einstündige Filme, die Mierle Laderman Ukeles in den Jahren 1979 bis 1984 aufgenommen hat. Sie dokumentieren ihre Langzeitperformance "Touch Sanitation", bei der sie mehr als 8.500 Müllmännern in New York City die Hand schüttelte und sich bei ihnen bedankte, weil sie die Stadt sauber und damit am Leben erhielten. Die 1939 in Denver, Colorado, geborene Aktionskünstlerin wollte mit ihrer Performance bei der Bevölkerung für mehr Respekt für die Müllarbeiter werben. In diesem Zusammenhang entstand ihr "Social Mirror", dessen soziale und politische Intention knapp 25 Jahre später, im Kontext der New Yorker Kunstmesse, kaum mehr zu rekonstruieren ist. Es sei denn für Kenner der kurzen, an neuen Ansätzen, Methoden und Medien freilich überreichen Geschichte der Gegenwartskunst.

Diese Geschichte der Gegenwartskunst will auch Markus Brüderlin, seit gut einem Jahr amtierender Nachfolger von Gijs van Tuyl am Kunstmuseum Wolfsburg, wieder in Erinnerung bringen. Van Tuyls Pop-Museum hat sich erledigt, nun ist der Kunsthistoriker am Zug. Anders als erwartet argumentiert auch er - unterstellte man Gijs van Tuyl schieres Trendspotting - nicht inhaltlich. Vielmehr verankert er die historische Rückbesinnung in formaler Ähnlichkeit. Dass sich diese Methode auf Roger M. Buergels documenta 12 unter dem Titel "Migration der Form" als Flop erwies, hindert Markus Brüderlin nicht daran, weiter auf das Verfahren zu setzen, in dem die aktuelle Kunst mit der Aura des schon Kanonisierten kontaminiert und umgekehrt das Kanonisierte mit dem Flair aktueller Hippness wieder zeitgeistkonform aufgeladen werden kann.

Entsprechend behauptete "ArchiSkulptur", Brüderlins erste Wolfsburger Ausstellung im vergangenen Februar, die modernistische Skulptur bleibe aktuell, schreibe doch die plastische Gegenwartsarchitektur ("gigantische, enigmatische Haushaltgeräte" sagte der Kritiker Bart Lootsma), so seine These, ihre Geschichte fort. Nun also soll "Japan und der Westen. Die erfüllte Leere" die minimalistische Kunst des 20. Jahrhunderts im Raum einer geradezu anthropologisch bedingt kulturenübergreifenden, zeitlos gültigen Ästhetik verorten.

Schrumpfte Brüderlin, um das Disparate überhaupt vergleichen zu können, bei "ArchiSkulptur" die Architektur auf Modellformat, ist das Kunstobjekt bei "Japan und der Westen" die Fortsetzung der Einrichtung mit anderen Mitteln. Prompt belegt dann das wohl arrangierte Zusammentreffen zwischen Paul Klees "Schwarze Zeichen" von 1938 und einer zerbrochenen und wieder restaurierten Teeschale aus dem 17. Jahrhundert einen "Dialog der Kulturen", der bei Brüderlin die Rede von der "Migration der Form" ersetzt. Unbestritten schaut das Ensemble in der weißen Ausstellungskoje wunderhübsch aus. Gleiches gilt für Barnett Newmans streng vertikales Farbfeldgemälde "The Gate" (1954), das sich mit einer Kurzschwertklinge aus der Edo-Zeit im 17. Jahrhundert paart. Oder für Agnes Martins zartgelb dominierte Komposition aus horizontalen Farbbändern, "Untitled Nr. 17" (1980), die bestens mit einer halbtransparenten Jadeteeschale aus der Qing-Zeit des 18./19 Jahrhunderts harmoniert. Es stimmt auch für Gerhard Merz "Hommage à Boullée", einen Zylinder, der im Innern mit 150 Leuchtstoffröhren bestückt ist, deren 18.000 Watt den zugeordneten, verstrahlten Fotografien zweier Bauten des japanischen Architektenpaares SANAA von Walter Niedermayr erst den richtigen Kick geben.

Überhaupt schwelgt die Ausstellung in einer Atmosphäre äußerster Erlesenheit, wie man sie sonst nur aus den minimalistischen Showrooms der Luxusgüterindustrie oder den sterilen Junggesellenwohnungen kulturbeflissener Anzugträger kennt. Über die Verlegenheit, nicht sagen zu können, wovon Markus Brüderlins "Dialog der Kulturen" denn konkret handelt, hilft das edle Ambiente von westlicher Kunst und fernöstlichem Kunsthandwerk trotzdem nicht hinweg. Denn welchen Reim soll man sich etwa auf die Ähnlichkeit zwischen dem 1921 in Berlin entstandenen Haus Sommerfeld von Walter Gropius und dem 752 v. Chr. in Nara erbauten Shôsô-in machen? Eigentlich doch nur den, dass es zwar nett ist, dass sich die westliche Architektur des 20. Jahrhunderts so sehr dem traditionellen japanischen Haus angenähert hat; dass dies aber noch lange nicht heißt, es sei mehr zu beobachten als pure Kontingenz; zumal wenn man erfährt, dass Gropius erst 1954 auf einer Japanreise die dortige Architektur wahrnahm.

Geht es also doch nur um eine besonders raffinierte Art Zen-Malerei, Keramik, Textilkunst, Lackarbeiten oder Instrumente der Teezeremonie zu präsentieren? Oder das verkrampfte Bemühen, keineswegs zeitlose Positionen der westlichen Gegenwartskunst mit Hilfe dieser Objekte der traditionellen japanischen Kunst wieder an den Mann zu bringen? Aus eigenem Recht jedenfalls wird Kunst in Wolfsburgs nicht gezeigt.

In diesem Punkt scheinen sich Markus Brüderlin von Kunstmuseum und Justin Hoffmann, der Leiter des Kunstvereins, zu treffen. Denn auch "Green Dreams", der jetzt im Kunstverein eröffneten Ausstellung, geht es um anderes als nur um Kunst. Wie der Ankündigungstext besagt, will die Schau "anhand von künstlerischen Beiträgen die Entwicklung von gut 30 Jahren Umweltschutz beleuchten". Dabei gilt der Blick zurück, wie die Kuratorinnen Christine Heidemann und Anne Kersten weiter argumentieren, vor allem der Frage, "wie sich umweltgerechtes Handeln in einer zunehmend globalisierten Welt gegenwärtig und für die Zukunft realisieren lässt". Und um nicht gleich den Eindruck aufkommen zu lassen, die Kunst werde allein pädagogisch beispielhaft herbeizitiert, attestieren sie ihr, "nicht nur kommentierend, sondern zum Teil sogar mitbestimmend Einfluss auf das Thema genommen" zu haben.

Da ist der Rückgriff auf die Bildsprache und Rhetorik alter Plakate zunächst ein kluger Zug. Joseph Beuys, der "bei dieser Wahl: die Grünen" (1980) empfahl, stiftete Andy Warhol gleich zu einem weiteren Plakat an. Amüsant, sich daran zu erinnern, dass die Partei, die ihr Bundestagswahlprogramm zuletzt visuell wie verbal auf die Zauberformel "Joschka" verkürzte, damals mit Warhols Promiwerbung "Andy Warhol für die Grünen" (1980) gar nichts anfangen konnte. Doch außer der Plakatstrecke und den Videos von Mierle Laderman Ukeles stammt das Gros der künstlerischen Beiträge aus den letzten fünf Jahren.

Einen mitbestimmenden Einfluss auf das Thema Umwelt- und, wie es inzwischen weiter heißt, Klimaschutz konnten sie in diesen Zeitraum nicht gewinnen. Fraglich ist auch, ob es reicht, dass Rene Lücks großformatige Collage "Traktorblockade" (2006) die Bauern auf ihren Traktoren in Erinnerung ruft, die in Gorleben protestierten, oder dass in Cornelia Hesse-Honeggers naturwissenschaftlichen Zeichnungen von morphologisch geschädigten Insekten im Gebiet um Tschernobyl die Bedrohung durch Atomkraft wieder wach wird, um davon zu sprechen, hier werde künstlerisch die 30-jährige Geschichte des Themas Umwelt beleuchtet?

Das muss nicht gegen die einzelnen Arbeiten sprechen; gegen die Ironie, mit der die 1974 in Miami geborene Künstlerin Lisi Raskin auf die Bedrohung des atomaren Fallout antwortet, indem ihr Alter Ego Dr. Hauptmann in ihrem "Nukepack Promotional Video" einen Radioaktivität vernichtenden Pilz bewirbt. Oder gegen Nana Petzets "SBF-System", das keineswegs, wie von ihr behauptet, "die Alternative zum Grünen Punkt" ist, sondern eine surreale Version jener Hausfrauenbibeln aus den 50er-Jahren, in denen sich für jeden Gebrauchsartikel eine praktische, geldwerte Wiederverwendung fand. Es spricht aber gegen ein vollmundig argumentierendes Ausstellungskonzept, dessen enigmatische Umsetzung einen dann nicht weniger ratlos als "Japan und der Westen" zurücklässt.

Altmodisch und geradezu reaktionär in ihrem Ansatz, nichts anderes wieder zeigen zu wollen als die bekanntesten Werkkomplexe dreier wichtiger japanische Fotografen, ist dann freilich eine dritte Wolfsburger Schau, die die Annahme Lügen straft, Kunst um ihrer eigenen Belange willen werde am Ort nicht mehr gezeigt. Ironischerweise gelingt ausgerechnet "Araki, Miyamoto, Sugimoto: Japanische Fotografie der Gegenwart" im Kunstmuseum eine komplexe Vergegenwärtigung der kurzen Vergangenheit der zeitgenössischen Fotografie. Das fängt schon mit den bescheidenen Formaten an, auf die die Besucher zunächst mit Erstaunen reagieren, um dann wirklich Freude darüber zu äußern, endlich einmal dem inzwischen ubiquitären Überwältigungsgestus der künstlerischen Fotografie nicht von vornherein unterworfen zu sein. Das setzt sich fort bei Nobuyoshi Arakis "Tokyo Novelle", die 1995 in Wolfsburg für Skandal gesorgt hatte und bei der man jetzt plötzlich erkennt, wie wenig sie in ihrer damaligen Form noch auf den Kunstmarkt spekulierte und wie sehr sie stattdessen den Klassikern des japanischen Kinos und der amerikanischen Street Photography verpflichtet war. Noch fehlte den gefesselten Frauen in ihren pornografischen Positionen jede Prominenz, noch war es nicht wirklich schick, Arakis Schickse zu sein.

Um diesen Werkkomplex, den das Kunstmuseums 1995 erwarb, sind Ryuji Miyamotos berühmte Fotoserie vom Erdbeben in Kioto und Hiroshi Sugimotos nicht weniger bekannte Serie alter Lichtspieltheater und Autokinos gruppiert. Und wenn man dann plötzlich bemerkt, dass Araki im Umfeld dieser strengen Konzeptualisten gar nicht wie erwartet herausknallt, scheint es fast so, als käme das daher, dass das - eben nicht thematisch orchestrierte - Zusammenspiel der drei Fotografen zu einem zweiten, genaueren Blick ermutigt.

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