die wahrheit: Vorsicht mit den Wünschen!
Das letzte Bild im Sammelalbum. Wo ist Werder Bremens Torhüter Tim Wiese?
In der Tankstelle an der Möllner Landstraße schob sonntags Herr Beltz Dienst, ein grimmiger Mann mit pechschwarzen Haaren und Spitzbart, vor dem kleine Jungs wie Martin gehörig Schiss hatten. Aber nicht heute: Mit einem Vermögen von 17 Euro im Brustbeutel kam Martin sich unantastbar vor. Er baute sich vor der Kasse auf, Beltz schaute herab und fragte: "Schon wieder Sammelbilder?" Martin nickte, und der Tankwart reichte ihm den Karton mit den Stickertüten herunter: "Ist ja hoffentlich dein Geld, das du verschwenden willst."
Martin hörte ihn gar nicht. 34 Tüten konnte er sich leisten - also 204 Sticker. In seinem Bundesligaalbum klafften nur noch 51 Lücken. Er musste bloß ein bisschen Glück haben, dann wäre seine Sammlung heute Abend komplett. "Fette Beute", sagte Herr Beltz, als Martin ihm etwas später den dicken Suchstapel hinhielt. "Aber glaub mal nicht, dass du das Heft jetzt vollkleben wirst. Das klappt nämlich nie. Und weißt du, warum?" Martin schüttelte den Kopf. Er wollte bezahlen und keine dämlichen Geschichten hören! "Ich sags dir, mein Junge", schnurrte Herr Beltz, und seine grünen Augen funkelten. "Weil es von Tim Wiese keinen einzigen Sticker auf der ganzen Welt gibt. Nicht einen. Das weiß ich aus sicherer Quelle."
Martin erblasste: Der Torhüter von Werder Bremen war sein Idol, der beste Spieler der Welt - wenn es nach Martin ging. Aber tatsächlich hatte er von Tim Wiese bis heute, nach gut 80 Tüten und vielen zähen Tauschaktionen auf dem Schulhof, kein Bildchen ergattern können. "Und warum gibts den nicht?" Herr Beltz zuckte mit den Schultern: "Keine Ahnung. Aber! Sei vorsichtig mit deinen Wünschen!" Martin hatte genug. Er zahlte und lief nach Hause.
Die ersten 20 Briefchen waren Treffer: In jedem fand er je zwei Sticker, die ihm noch fehlten. Dann kamen sechs Tüten voller Nieten. Martin verzweifelte ein wenig. Tüte Nummer 27 jedoch war ein echter Sechser - seit Wochen hatte er so was nicht mehr gehabt. In der nächsten Tüte fand er, auch unglaublich, vier neue Fotos. Ihm schwindelte vor Glück: Bloß ein Sticker fehlte jetzt noch. Aber welcher? Er hatte vor Ungeduld gar nicht darauf geachtet, was er einklebte. Hastig blätterte Martin durchs Album; Die Seiten waren von den vielen Klebebildern steif und schwer wie Pappe. Da - Seite 28, Bild 97. Tim Wiese. Martins Rausch verflog. Kurz glaubte er, im leeren Fotorahmen Herrn Beltz zu sehen, grinsend.
Die restlichen Briefchen öffnete Martin mit äußerster Vorsicht. Bevor er die Sticker herauszog, hielt er die Öffnung an die Nase und atmete den schwachen Duft von Klebstoff und Druckfarbe tief ein. Davon wurde ihm zwar etwas schummerig, doch sein Herz klopfte nicht mehr so stark. Als allerdings auch die 33. Tüte bloß Doubletten und keinen Tim Wiese enthielt, setzte Martins Herz, glaubte er, einfach aus. Lange starrte er das letzte Briefchen an. Wenn man sich wirklich etwas wünschte, ging es auch in Erfüllung, dachte er. Fingerkreuzen, wünschen, ein Gebet sprechen, wünschen, die Luft anhalten, wünschen, die Lider fest zusammenkneifen und wünschen, wünschen, wünschen! Als Martin die Augen wieder öffnete, schien sich die Tüte verändert zu haben. Er zupfte zitternd die Klebebildchen heraus. Links unten lächelte Tim Wiese ihn an.
Da brauste ein ungeheurer Lärm auf, so als würden 50.000 Menschen in Martins Zimmer brüllen und klatschen. Aber das war gar nicht sein Zimmer, sondern ein Fußballplatz, und er saß auch nicht an seinem Schreibtisch, sondern stand in einem Tor, und die Wände mit den Fußballpostern hatten sich in Tribünen verwandelt. Kein Zweifel: Dies war das Weserstadion. Martin war auch nicht mehr 1,40 Meter klein, sondern 1,93 Meter groß und mit Muskeln bepackt, dicker als sein Knabenbauch. Martin träumte oft von Werder Bremen, aber so echt wie das hier hatte es sich noch nie angefühlt. "Tim!", brüllte ihm jemand zu, "Tim, hör auf zu träumen!" Martin sah hin und erkannte Per Mertesacker. Der Verteidiger meinte doch nicht etwa ihn?
Jetzt fiel ihm auf, dass, eckig wie ein Roboter, ein Mann auf ihn zurannte. "Meine Güte", dachte Martin: Das ist Luca Toni vom FC Bayern. Der riesige Stürmer sprang hoch, um einen Pass zu erwischen, den Franck Ribery in den Strafraum gezirkelt hatte. Toni rammte die Stirn so wuchtig gegen den Ball, dass der sich dellte. Die Werder-Fans verstummten entsetzt, die Bayern-Anhänger schrien auf. In seinem Verein stand Martin zwar auch im Tor, doch das half ihm jetzt gar nichts. Er wusste nicht, wie er mit diesem mächtigen Männerkörper umgehen sollte. Er fühlte sich, als sei er in Sekundenbruchteilen aufgepumpt worden, so wie der Kirmesverkäufer die Ballons an der Gasflasche aufbläst. Der Ball jagte dem Tor entgegen, ein haltbarer Ball, trotz seiner Geschwindigkeit. Aber Martin konnte nicht mal einen Finger krümmen.
Jetzt stand alles still. Sogar die Bayern-Fans verstummten. Die Spieler vor Martin verharrten wie eingefroren: Mertesacker, den Mund weit geöffnet; Toni, die Schuhspitzen knapp überm Gras; Ribery, das linke Knie auf dem Boden. Auch der Ball bewegte sich nicht mehr. Kaum zwei Meter vor Martins Gesicht hing er wie ein kleiner Mond. Kein Wind wehte. Eine Ewigkeit verging, und dann noch eine.
Martin kam es vor, als sei er im größten Sammelsticker der Welt gefangen. Dann raschelte es im Stadion, ein Rascheln, so laut, als würde Gott selbst das Universum wie eine Tüte zusammenknüllen. Das Letzte, was Martin hörte, war eine Knabenstimme: "So ein Mist - hab ich schon!"
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