Agression und Migration: Der Körper als letzte Ressource
Die Landeskommission gegen Gewalt beschäftigt sich in einer Studie ausgiebig mit den Gründen für die Kriminalität junger Migranten. Ergebnis: Die Gesellschaft muss Perspektiven bei Bildung und Arbeit schaffen - und die Eltern stärker einbeziehen.
Es gibt eine neue Studie. Sie ist 221 Seiten stark und trägt den abschreckenden Titel: "Gewalt von Jungen, männlichen Jugendlichen und jungen Männern mit Migrationshintergrund in Berlin". Die Lektüre lohnt sich. Unter der Schirmherrschaft der Landeskommission gegen Gewalt hat eine Arbeitsgruppe Ursachenforschung betrieben, warum junge männliche Migranten in Berlin überproportional häufig an Gewaltdelikten beteiligt sind.
Es ist keine empirische Studie im engeren Sinne. Die vorhandenen Forschungsergebnisse und Erkenntnisse wurden vielmehr gebündelt und durch einen konkreten Empfehlungsteil ergänzt. Verbunden ist das Ganze mit einem deutlichen Appell an die deutsche Mehrheitsgesellschaft und die Communitys der Bürger nichtdeutscher Herkunft "gemeinsam Verantwortung zu übernehmen".
Zwei Jahre lang hat sich die Arbeitsgruppe im Abstand von fünf bis sechs Wochen mehrere Stunden lang getroffen: Mitglieder von zahlreichen Migrantenorganisationen, Kulturzentren, Moscheevereinen, Freien Trägern, Vertreter von Quartiersmanagements, Polizei und fast allen Senatsverwaltungen. Auch Experten wie der Islamwissenschaftler Ralph Ghadban und der Psychologe Haci-Halil Uslucan, der an der Uni Potsdam lehrt, wirkten mit. Ende August wurde das Arbeitsergebnis öffentlich vorgestellt. Doch wirklich zur Kenntnis genommen wurde die Studie bis heute nicht.
Die Gründe, warum junge Männer mit Migrationshintergrund häufiger mit dem Gesetz in Konflikt kommen und gewalttätig werden, sind hinlänglich bekannt: Perspektivlosigkeit im Hinblick auf Ausbildung und Beruf, fehlende Partizipationsmöglichkeiten, Identitätskonflikte, innerfamiliäre Gewalt, traditionell-autoritäre Erziehungsmuster und überzogene Männlichkeitsvorstellungen. In Ermangelung von Identifizierungsmöglichkeiten "wird der Körper für die Jugendlichen oftmals zur vermeintlich letzten Ressource", heißt es in der Studie. "Diese Ressource wird gepflegt, mitunter bis zur Hypermaskulinität aufgebläht und in Form von Gewalt zum Schaden anderer eingesetzt."
Vor dem Hintergrund, dass die Ursachen für die erhöhte Gewaltbereitschaft "seit Jahren beziehungsweise Jahrzehnten bekannt sind, bisher erprobte Lösungswege aber nicht den gewünschten Erfolg haben", konstatieren die Verfasser der Studie: "Es darf kein einfaches 'Weiter so' geben." Neue, mutige Wege seien gefragt. Die Gesellschaft müsse ein gemeinsames Selbstverständnis entwickeln und aufhören, in "Wir"- und "Ihr"-Schemata entlang ethnischer Herkunft zu denken. Bürger mit und ohne Migrationshintergrund sollten Interesse füreinander entwickeln. Die Interkulturalität müsse in allen gesellschaftlichen Bereichen strukturell verankert werden.
Deutliche Worte gehen auch an die Politiker und Migrantenverbände. Die Politik müsse für Bürger anderer ethnischer Herkunft endlich realistische Perspektiven auf dem Ausbildungs- und Beschäftigungsmarkt schaffen und die Benachteiligungen im Bereich Bildung beseitigen. Die Migrantenverbände müssten "weitaus klarer als bisher" zu wesentlichen Fragen der Gewaltprävention Position beziehen.
Die Studie beschäftigt sich natürlich auch mit den Eltern. Kinder mit Migrationshintergrund sind zu Hause wesentlich häufiger mit Gewalt konfrontiert als Jugendliche deutscher Herkunft. Sei es, dass sie von den Eltern geschlagen werden oder der Vater die Mutter schlägt. Innerfamiliäre Gewalt sei vor allem in Familien mit einem niedrigen Bildungsgrad und geringem Einkommen ein Problem, wird festgestellt. Bei Jugendlichen, die in der Kindheit selbst Opfer massiver elterlicher Gewalt waren, sei die Wahrscheinlichkeit größer, dass sie später selbst gewalttätig würden (siehe auch Interview unten). Auch das ist keine neue Erkenntnis. Interessant sind eher die Zahlen. Bei der Beschreibung der innerfamiliären Gewalt stützt sich die Studie auf eine bundesweite Erhebung des Kriminologischen Forschunginstituts Niedersachsen. Gewalt in der Kindheit und im Jugendalter würden insbesondere junge türkische Migranten erfahren, heißt es. Während etwa jeder vierte junge Türke über schwere Züchtigungen im letzten Jahr im Elternhaus geklagt habe, sei dies bei den jungen Deutschen nur bei jedem 15. der Fall gewesen. Hohe Opferraten fänden sich auch bei Jugendlichen aus Exjugoslawien und Aussiedlern aus der GUS.
Was folgt nun aus all diesen Erkenntnissen? Nach Angaben von Thomas Härtel - der Staatssekretär für Inneres und Sport ist zugleich Vorsitzender der Landeskommission gegen Gewalt - ist die Studie mit der Bitte um Vorschläge an alle Bezirksämter verschickt worden. Danach will Härtel eine Senatsvorlage mit bindenden Vorschlägen erarbeiten lassen. "Der zentrale Punkt ist, an die Eltern ranzukommen."
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