Friedhofstermin: Dank an die Grabpfleger
SPD-Politiker ehren den vor 75 Jahren verstorbenen Stadtverordneten Eduard Bernstein.
Der städtische Friedhof Eisackstraße am Innsbrucker Platz war einmal ein geradezu paradiesischer Fleck. Aber nach und nach wurde es dort immer ungemütlicher: Erst rahmte man ihn mit zwei S-Bahntrassen ein, später zerschnitt ihn auch noch die Stadtautobahn. Der heutige Verkehrslärm hindert nicht nur die Toten an der Ruhe, sondern auch die Lebenden am Zuhören - wenn hier zum Beispiel Worte des Gedenkens fallen. Zur Erinnerung an den vor 75 Jahren verstorbenen SPD-Theoretiker und Schöneberger Stadtverordneten Eduard Bernstein versammelten sich desungeachtet am Mittwoch morgen rund zwei Dutzend führende SPD-Genossen und Ortsgruppen-Aktivisten an seinem Ehrengrab auf dem Friedhof.
Die Sozialdemokratie ist auf Sinnsuche und beschäftigt sich wieder mit ihren Vordenkern: "Wir haben keinen Grund, uns von unserer Vergangenheit zu distanzieren", hatte dazu bereits SPD-Chef Kurt Beck bei Verabschiedung des neuen Parteiprogramms in Hamburg gesagt. In diesem Geist zog SPD-Generalsekretär Hubertus Heil nun am neuen Grabstein des "Revisionisten" Eduard Bernstein eine gerade Linie vom Gothaer über das Erfurter bis zum Godesberger und dem Hamburger Programm: Stets sei es darum gegangen, sich von der "naiven Utopie" zu verabschieden (ohne allerdings das Wort Sozialismus fallen zu lassen) und stattdessen auf die altbewährte "Methode Reform" zu setzen. Um es mit den Worten von Eduard Bernstein zu sagen, dem auch noch Willy Brandt zugestimmt hätte: "Das Ziel ist nichts, die Bewegung alles!"
"Mein lieber Ede, so etwas sagt man nicht, so etwas tut man," entrüstete sich seinerzeit der Genosse Ignaz Auer. Eine satte Mehrheit distanzierte sich gar auf dem Dresdner Parteitag 1903 von Bernsteins Marxismus-Revision: Reform statt Revolution. Auch der damalige Juso-Vorsitzende Gerhard Schröder beharrte 1978 noch darauf: "Als Sozialist muss man das Paradies auf Erden für möglich halten." Als Kanzler peilte er dann jedoch ähnlich wie Tony Blair pragmatisch die "Neue Mitte" an. Seit dem Hamburger Bundesparteitag im Oktober 2007 ringt man nun aber um eine "solidarische Mehrheit" und bringt dabei erneut den "demokratischen Sozialismus" aufs Tapet. Dazu gehört auch eine gute Portion "Geschichtsarbeit", wie der SPD-Landesvorsitzende Michael Müller am Bernsteinschen Grab ausführte.
Hubertus Heil verband Eduard Bernstein kurzerhand mit US-Präsident J.F.Kennedy, als er am Ende der Gedenkfeier ausrief: "Ich bin ein Revisionist!" Applaus von den ums Grab versammelten Genossen, darunter die Berliner Landtagsabgeordnete Dilek Kolat, die in ihrer Begrüßungsrede bereits die Aktualität von Bernstein betont und sich bei den bisherigen Grabpflegern aus dem Ortsverein bedankt hatte.
Am Ende der sympathisch bescheidenen und kurzen Veranstaltung an diesem kalten Dezembermorgen richteten einige Genossen noch schnell die rot-weißen Blumengebinde auf dem Grab, dann waren die meisten auch schon wieder verschwunden - unterwegs zu einem weiteren "Termin".
Zurück blieben zwei Friedhofsbesucher, die sich erst anhand der Grabinschrift informieren mussten, um wen oder was es bei den Reden überhaupt gegangen war. Einer meinte daraufhin geschichtsbewusst: Er würde in dem alten "Revisionismusstreit" zwar die Position von Luxemburg, Liebknecht und Kautsky eingenommen haben. Aber so antikommunistisch sei der von ihnen angegriffene Eduard Bernstein doch nun auch wieder nicht gewesen, als dass er nicht ein schönes Grab auf dem Sozialistenfriedhof in Lichtenberg verdient hätte - statt hier an der sozialdemokratischen Autobahn zu vermodern.
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