Jeder Tag bringt 100 Busse: Wirklich idyllisch ist nur Weihnachtsland
Im Erzgebirgedorf Seiffen gibt es in 50 Läden Engel und Schaukelpferdchen, die ortsansässige Handwerker gedrechselt und geschnitzt haben
Gut unterkommen kann man im Zentrum von Seiffen im Hotel Erbgericht "Buntes Haus" - ein 500 Jahre altes Traditionsgebäude. Vor jedem Zimmer wacht ein geschnitztes Erzgebirgemännchen
Seiffens kleine Barockkirche steht auf einem Hügel. Scherenschnitte von Nussknackern und Schaukelpferdchen zieren die Straßenlaternen an der Treppe, die hinunter ins Dorf führt. Warmes Licht strahlt aus den Häusern auf die Straßen, und in jedem Fenster gibt es was zu sehen: Räuchermännchen, Engel und Holzsterne, Schwibbögen mit Kerzen obendrauf und natürlich schwer beladene Weihnachtsmänner. Und wenn es gut läuft, dann fallen noch ein paar Schneeflocken.
"Hier sieht es so aus, wie ich mir als Kind immer Weihnachten gewünscht und vorgestellt habe", sagt Frauke F.* aus Bamberg. Zusammen mit 50 anderen älteren Leuten ist die 60-Jährige am Morgen mit dem Bus ins Erzgebirge aufgebrochen. Fast jeder hat das eine oder andere Engelchen in der Handtasche. "Wenn man all die kleinen Läden mit dem Holzspielzeug betritt", meint Frau F., "dann bekomme ich auch als Erwachsene glänzende Augen." Manche Handwerker lassen ihre Kundschaft sogar ganz allein stöbern, während sie im Hinterzimmer schnitzen oder winzige Figürchen montieren. Kurzum: Es herrscht Gottvertrauen in dem 2.800-Seelen- Ort Seiffen, fünf Kilometer von der tschechischen Grenze entfernt, der sich selbst als Spielzeugdorf und Hauptstadt von Weihnachtsland bezeichnet und wo für einen Stundenlohn von 4 bis 6 Euro die Original-Erzgebirge-Figürchen entstehen, die bis nach Japan und in die USA bekannt sind.
Selig sind die Seiffener, die einen Laden auf dem halben Kilometer zwischen Touristeninformation und Museum besitzen. Hier kommen garantiert alle der jährlich 150.000 Adventsmarktbesucher entlang, und an jedem Wochenendtag im Dezember spucken hier mindestens 100 Busse ihre Ladung aus. Frauen mit Kittelschürzen sitzen in einer Schauwerkstatt und malen den Engeln mit sicheren Pinselstrichen Gesichter, während im unteren Stockwerk Männer die Holzrohlinge zurechtsägen. Schilder weisen die Besucher darauf hin, dass sie bitte niemanden ansprechen mögen: Die Arbeit an den Maschinen sei sonst zu gefährlich.
Wer wirklich etwas vom Handwerk mitbekommen möchte, sollte ein paar Minuten Fußweg den Berg hinauf zum Glashüttenweg 36 in Kauf nehmen. Dort hat Jürgen Beyer seine Werkstatt - und er liebt seinen Beruf. Interessierte nimmt er gerne mit in seinen Keller, wo Jahr für Jahr tausende von Figuren ihren Anfang nehmen. Heute steht noch einmal die Produktion von einigen Dutzend Räuchermännchen in Form des Luther-Widersachers Tetzel an. "Dass der so gut läuft, überrascht mich selbst", sagt der 56-Jährige mit dem dichten grauen Haar und einem gleichfarbigen Schnurrbart, den auch viele seiner Figuren tragen. In der Ecke liegen Fichten-, Erlen- und Lindenbalken, die zunächst im mehr oder weniger dicke Besenstiele verwandelt werden. Dann spannt Beyer die Rundhölzer in seine Drechselbank, und das nach seinem Modell gefertigte Stahlwerkzeug schält in Sekundenschnelle Arme, Beine oder Körper heraus. Danach wird gesägt, geschliffen und geleimt, bevor die Rohlinge bemalt und mit Haarkranz, Schatztruhe und 1-Cent-Stück in der Hand versehen sind. Fast 40 Arbeitsschritte sind nötig, bis der feiste Ablasshändler im Regal landet - wo schon Bataillone von Omas, Opas, Förstern auf Käufer warten. Und wer will, den lässt Familie Beyer auch mal selbst mit dem Schnitzmesser hantieren.
Fernab vom Rummel ist man als Tourist im Advent auch in Seiffens Freilichtmuseum. Und dabei gibt es hier etwas zu sehen, was weltweit nur noch zehn Menschen beherrschen: das Reifendrehen. Meister Hans-Günter Flath arbeitet in einer behaglichen, 250 Jahre alten Werkstatt mit extrem niedriger Decke, die demnächst ins Weltkulturerbe aufgenommen werden soll. Gerade spannt er eine klitschnasse Fichtenscheibe in seine Drechselbank ein; den Stamm hatte er zuvor monatelang in dem kleinen See vor der Tür gewässert. Dann greift er zum Drehmeißel, und während die spaghettilangen Späne bis an die Decke spritzen, entstehen unter seinen Fingern millimetergroße Kurven und Vertiefungen. Nach einer Weile hält Flath einen Holzring mit dem Durchmesser eines Esstellers in der Hand. Was sich wohl darin verbirgt, fragt er die Besucher. Mit einem Messer trennt der Drechsler anschließend das Holz so leicht durch, als teile ein Stück Käse - und sichtbar werden die Konturen eines Hasen. "Das ist schon für die Osterproduktion", erklärt der 42-Jährige. Gleich dreißig Ringe hat ein Seiffener Schnitzer bei Flath in diesem Jahr bestellt - und aus jedem wird er etwa 60 Tierrohlinge herausschneiden.
Noch kommen die Fichtenstämme aus Seiffens Umgebung. Doch für die Ringdreherei werden sie wohl nicht mehr lange taugen, meint Flath. Dafür brauche man schließlich Holz, das sehr langsam gewachsen ist und entsprechend dünne Jahresringe hat. Doch seit Mitte der 90er-Jahre haben die Stämme im Erzgebirge ordentlich zugelegt, weil es früher warm und später kalt geworden ist. "Pappsch" seien sie deshalb an den Rändern, erklärt Flath und zeigt auf eine Baumscheibe, bei der die äußeren Jahresringe mehr als doppelt so breit sind wie die inneren.
Ansonsten müssen sich die Seiffener, die früher einmal von Glas und dann vom Bergbau gelebt hatten, ebenfalls neue Wege suchen. Denn sobald Weihnachten vorbei ist, bricht der Besucherstrom abrupt ab. Mit Lift und Schneekanonen versucht der ausgewiesene Kurort, vermehrt Winterurlauber anzulocken. Und für die Zeit danach gibt es inzwischen nicht nur grenzüberschreitende Angebote für Mountainbiker und radelnde Familien, sondern auch eine 733 Meter lange Sommerrodelbahn mit neun Steilkurven. Wer unten angekommen ist, kann dann selbst im Mai oder Juli für eine Weile in ein Vorweihnachtsambiente eintauchen: Engel und Ruprechtknechte aus Holz werden in Seiffen das ganze Jahr produziert.
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