Premiere am Thalia Theater: Abhauen ja, aber wohin?
Keine Scheu vor Gefühlskino: David Bösch hat im Hamburger Thalia Dirk Lauckes "alter ford escort dunkelblau" inszeniert.
Ausgerechnet das Mansfelder Land. Wer hätte gedacht, dass die stillgelegte Industrielandschaft im östlichen Vorharz einmal Schauplatz mehrerer Theaterstücke werden könnte. "Sterne über Mansfeld" heißt das Stück von Fritz Kater, von seinem Alter Ego Armin Petras vor vier Jahren selbst uraufgeführt, das aus dem Leben zwischen Abraumhalden und miesen Zukunftsaussichten erzählt. Figuren wie der ehemalige Rockmusiker Thomas werden von der Vergangenheit eingeholt, als er die Eröffnung einer Gokartbahn plant. Das gekaufte Grundstück entpuppt sich als unbrauchbar: einsturzgefährdet, weil von blinden Stollen aus der Zeit des Kupferabbaus durchlöchert.
Landschaft mit zerfurchter Seele trägt auch Dirk Lauckes Stück im Titel: "alter ford escort dunkelblau" - das klingt nach schlechten Straßen, kaputtem Auspuff und verbeulten Türen. Wohlstand jedenfalls materialisiert sich darin nicht. Laucke ist 1982 in Halle geboren und damit 18 Jahre jünger als Fritz Kater. Die Wende spielt bei ihm keine direkte Rolle mehr, zumindest ist keine Rede davon. Unterbewusst wirkt ihre verändernde Kraft jedoch genauso stark.
Denn weggehen aus dem Mansfelder Land wollen alle Laucke-Figuren. "Wenn man etwas erleben will, dann doch nicht hier. Schaut euch mal um", sagt Boxer. Aber abhauen wohin? Das weiß auch der ehemalige Sport-Ambitionierte, Mitte zwanzig, nicht, dann schon lieber im Plattenbau bleiben, den man seit der Kindheit kennt. Wie Boxer arbeitet Schorse, 42, durch die Vermittlung einer Zeitarbeitsfirma in einem Getränkegroßhandel und stapelt Bierkisten. Schorses Ehe mit Karin ist gescheitert, er hat weder Geld, um seinen Ford Escort mal generalüberholen zu lassen, noch um seinem Sohn ein Geburtsgeschenk zu kaufen. Paul, der Dritte im Bund, muss bei seinem Vater im Großhandel eine Lehre machen.
Jeden Tag fahren sie gemeinsam zur Arbeit. An diesem Morgen aber soll die Reise woanders hingehen, sie holen Schorses Sohn von der Schule ab und starten zum Ausflug nach Legoland. Mehr passiert vordergründig nicht. Dennoch Stoff genug für ein Roadmovie Richtung middle of nowhere, das die Leben verändern könnte, wenn, ja wenn, ostdeutsche Straßen wirklich ein Stück Freiheit bedeuten würden.
Dirk Laucke hat mit seinem ersten Stück bereits seinen Weg gemacht. Er gewann den Kleist-Förderpreis, die Osnabrücker Uraufführung wurde zu den Mülheimer Theatertagen eingeladen und Laucke zum Nachwuchsdramatiker des Jahres gewählt. Dass nun der 29-jährige David Bösch das Stück in der Nebenspielstätte des Thalia-Theaters inszeniert, galt von vorneherein als gute Idee. Zu hölzerner Sozialrhetorik ist Bösch auf Distanz.
Vor pochenden Sehnsüchten und großem Gefühlskino hat er keine Scheu, fast keine, muss man nach dem Abend sagen. Im Zwischenmenschlichen lotet Bösch die Figuren aus und legt sie einem ans Herz. Es sind keine Arbeitslosen und Asozialen, die er hier auf die Bühne holt, sondern Männer mit Ticks und Marotten, die noch aus anderen Zeiten stammen. Schorses (Norman Hacker) Affenliebe zu AC/DC offenbart ihr ganzes Ausmaß darin, dass er "Highway to Hell" für den Himmel auf Erden hält und mit Verve ausschmückt, wie er einmal Angus Young berührte. In der dreckverkrusteten Bühne von Patrick Bannwart, halb braunsandiger Straßenstreifen, halb Werkstatt-Hinterhof, herrscht dennoch verhangene Stimmung. Der Ausbruchsversuch ist gestrichen. Kein Auto auf der Bühne, mit dem man so tun könnte als ob. Bösch hat nicht das Roadmovie im Sinn, sondern das Psychogramm dreier Kumpels und einer Frau, die aus ihrem Leben erzählen.
"Hau endlich ab", sagt Schorses Ex, die längst den Jahrmarktgewinn und den Ehering versetzt hat. "Aber ich weiß doch nicht, wohin", so Schorse, der Karins letztes Geld für eine AC/DC-Platte ausgab und jetzt nur noch die Musik hat. Dahinter steckt natürlich die Frage, was es noch zum Überleben braucht als Kleidung, Essen und ein Dach über dem Kopf.
Es ist beklemmend und es ist lustig zugleich, wie allen voran Norman Hacker aus Schorses Macken einen durchlässigen Typen zeichnet, dessen Art des Scheiterns man am Theater liebt. Und sie scheitern, weil alles auf Zeit ist: Jobs, Beziehungen, Ehe. Was ihnen bleibt, sind sie selbst, was sie trennt, ist das Unverlässliche in ihren Verhältnissen. In dieser Stimmung hält Bösch die Schicksalgemeinschaft eine ganze Weile, dann kippt sie doch in zu viel behauptetes Unglück um: kaputte Ehe, Selbstmord der Mutter, Tod des Vaters. Die Inszenierung ist kein Knüller wie Lauckes Stück, aber ein Abend, mit dem sich Bösch weiter für Großes empfiehlt. Wenn auch nicht unbedingt im Mansfelder Land.
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