Geschichtsstunde: Olga Benarios Tochter erzählt
"Meine Mutter ist eine Heldin für mich", sagt Anita Prestes - dabei hat sie sie selbst nie kennengelernt. Die Berliner Kommunistin war von den Nazis hingerichtet worden.
Es dauert nicht lange, bis Anita Leocádia Prestes die volle Aufmerksamkeit der gut 50 Oberstufenschüler hat. Die Lebensgeschichte von ihr und ihrer Mutter fesselt die Jugendlichen, die an diesem Mittwoch ins Besucherzentrum der Mahn- und Gedenkstätte des Frauenkonzentrationslagers Ravensbrück, 70 Kilometer nördlich von Berlin, gekommen sind.
Prestes Mutter Olga Benario war eine Berühmtheit und Legende in der DDR: Mehr als 100 Kindergärten, Produktionsbrigaden und Pionierfreundschaften sowie zahlreiche Straßen trugen ihren Namen, es gab Briefmarken mit ihrem Konterfei. Sie wurde in der Weimarer Republik als Kommunistin verhaftet, floh in die Sowjetunion, bereitete in Brasilien eine (gescheiterte) Revolution vor und wurde schließlich in einem Konzentrationslager der Nazis ermordet. Am 12. Februar wäre sie 100 Jahre alt geworden.
Mit ruhiger Stimme und festem Blick berichtet die 71-Jährige von ihrer Mutter. Man merkt ihr an, dass sie die Geschichte nicht das erste Mal erzählt. "Meine Mutter ist eine Heldin für mich", sagt sie - dabei hat sie sie selbst nie kennengelernt.
Olga Benario - 1908 in einer jüdisch-sozialdemokratischen Anwaltsfamilie in München geboren - wird bereits früh Mitglied in der verbotenen Kommunistischen Jugend. 1925 zieht sie mit dem Schriftsteller Otto Braun nach Neukölln, arbeitet für die KPD und die sowjetische Handelsmission. Als Braun wegen Spionage angeklagt wird, organisierte Benario 1928 seine Befreiung aus dem Kriminalgericht Moabit und flieht nach Moskau. Dort macht sie eine militärische Ausbildung.
In Moskau erhält Benario 1934 den Auftrag, zusammen mit Luís Carlos Prestes, einem früheren Hauptmann der brasilianischen Armee, in Brasilien eine kommunistische Revolution anzuzetteln. Beide tarnen sich für die Reise als bürgerliches Ehepaar - und verlieben sich ineinander. Ihr Putsch im November 1935 scheitert jedoch, Benario wird nach Deutschland ausgewiesen. Hier, im Frauengefängnis Barnimstraße in Friedrichshain, kommt Anita Leocádia Prestes zur Welt.
"Es gab dann eine große internationale Kampagne für die Freilassung von mir und meiner Mutter", erzählt Prestes. Doch nur mit halbem Erfolg: Prestes wird im Alter von 14 Monaten freigelassen und kommt zu ihrer Großmutter - doch ihre Mutter bleibt in Haft. Sie wird 1939 ins Konzentrationslager Ravensbrück verlegt und 1942 umgebracht. Benarios Mutter und ihr Bruder sterben im KZ Theresienstadt.
Prestes führt den Kampf ihrer Mutter fort und wird 1972 in Brasilien wegen politischer Aktivitäten angeklagt. Sie flieht in die Sowjetunion, die sie als überzeugte Kommunistin auch heute noch in guter Erinnerung hat: "Wir haben die Solidarität der Werktätigen gespürt, das hat gut getan." Zwar habe es gerade anfangs unter Stalin auch Verbrechen gegeben. Doch das "darf man nicht als Vorwand nehmen, um all die Errungenschaften des ersten kommunistischen Staates auf der Welt zu negieren, wie kostenlose Bildung und Kinderbetreuung." Die Fehler der UdSSR, so Prestes, könnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Kommunismus das überlegene System sei.
Nach der brasilianischen Generalamnestie 1979 kehrt Prestes zurück und macht ihren Doktortitel. Heute ist sie Professorin für Geschichte an der Universität von Rio de Janeiro. Ihre Verwandten hätten ihr immer gesagt, sie dürfe sich nicht auf der Bekanntheit ihrer Eltern ausruhen, sondern müsse selbst etwas schaffen. Prestes besuchte mehrmals die DDR, in der ihre Mutter zusammen mit Hilde Coppi und Liselotte Herrmann als Symbol für die von den Nazis ermordeten Mütter geehrt wird. Ihr Eindruck von dem Land war "der bestmögliche", erzählt sie den Schülern, die alle erst nach der Wende auf die Welt kamen: "Die DDR hatte das höchste Lebensniveau der sozialistischen Länder."
Wie es denn für sie sei, jetzt in Deutschland zu sein, fragte ein Schüler. "Es ist schön, hier zu sein und so viele Jugendliche zu sehen", antwortet Prestes und fügt hinzu: "Ich hoffe, dass wir alle etwas dagegen tun, dass der gerade wieder erstarkende Faschismus nochmals an die Macht kommt."
Nach der Diskussion mit den Schülern besichtigt Prestes die frisch eröffnete Ausstellung "Jüdische Frauen im Konzentrationslager Ravensbrück". Zwischen 1939 und 1945 waren in dem KZ rund 150.000 Personen registriert, viele mussten Zwangsarbeit verrichten, nur wenige überlebten. In der Ausstellung wird auch ein kleiner Atlas gezeigt, den Benario im Konzentrationslager zeichnete. Bereits Anfang der Woche hatte Prestes in der Neuköllner Innstraße vor dem Haus 24 einen "Stolperstein" - eine plastersteingroße, in den Boden eingelassene Gedenkplatte - eingeweiht, der ihrer Mutter gewidmet ist.
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