Radrennfahrer Kurt Stöpel: Der Pedaleur als Philosoph
Kurt Stöpel, vor hundert Jahren in Berlin geboren, trug als erster deutscher Radfahrer Gelb bei der Tour de France. Hautnah beschrieb er seine Erlebnisse.
"Es ist eine tragische Nacktheit, das zerklüftete Felsgestein scheint uns angrinsen zu wollen." Das wurde von dem Radsportler Kurt Stöpel geschrieben. Er war nicht irgendeiner, sondern der erste Deutsche, der eine Etappe bei der Tour de France gewann. Der erste Deutsche, der im gelben Trikot fuhr und in Paris als Gesamtzweiter noch auf dem Treppchen stand. Er war Berliner und ein kompletter Fahrer wie sein Nachfolger im Triumphe, Jan Ullrich.
Doch außer radfahren konnte Stöpel auch noch schreiben. "Die Wolken hüllen uns ein, als hätten sie Mitleid mit uns keuchenden Ameisen, die es gewagt haben, die Riesen der Bergwelt herauszufordern. Es ist nur ein Tasten, ein ungewisses Taumeln von einer Straßenhälfte zur anderen, dabei die Angst im Herzen, nicht zu nahe an den Abgrund zu kommen." Stöpel, vor 100 Jahren in Berlin geboren, beschreibt so seine Erlebnisse bei der Tour de France 1932. Dabei erweist er sich als ein Enkel der Spätromantik in der Tradition eines E. T. A. Hoffmann oder auch als ein Cousin des Expressionisten Gottfried Benn. Er ist geschult an diesen Sprachbildern und projiziert sie auf sein Metier, den Rennsport. Seine Prosa ist ein Galibier, der aufragt aus dem Flachetappendeutsch, in dem heute sogenannte Rennfahrertagebücher verfasst sind.
Seine ersten Fahrradrunden dreht der fünfjährige Stöpel auf Kreuzberger Kopfsteinpflaster. Mit 14 fährt er Jugendrennen und arbeitet parallel als Redaktionsbote der Nachrichtenagentur United Press. Ob die Agentur gegenüber ihrer Konkurrenz einen Geschwindigkeitsvorteil durch ihren schnellen Boten hatte, ist nicht überliefert. Bekannt ist indes, dass der hagere, zähe Junge mit den dünnen Beinen bereits um drei Uhr morgens aufsteht, sein Rad nimmt (noch eines ohne Gangschaltung) und trainieren fährt. Er sieht die Sonne in den Havelbergen aufgehen. Um 9 Uhr muss er in der Innenstadt im Büro sein. Am Wochenende locken Rennen.
Mit 19 Jahren wird Stöpel deutscher Meister im 100-Kilometer-Mannschaftszeitfahren im Team des RC Diamant Berlin. Ebenfalls mit 19 gewinnt er die 13. Etappe der Deutschlandtour, die damals noch eine Zusammenführung von Einzelrennen war. 1928 folgen weitere Siege als Amateur. Dann will er mit dem Radsport Geld verdienen. "Das wirst du eines Tages bereuen", prophezeit ihm sein Chef bei der Agentur. Doch Stöpel, der viel liest und gern Journalist geworden wäre, hat sich die Sache gut überlegt. In seinem ersten Profijahr 1930 wird er Zweiter der Deutschlandtour.
Er reist ins Ausland, wird Zweiter beim Criterium von Mailand, Vierter bei der Straßen-WM in Lüttich. Er macht sich einen Namen, auch weil er offen ist, neugierig und sprachgewandt. Fließend beherrscht er Englisch, Französisch und Spanisch. Er interessiert sich für die Länder, die er sieht, ganz im Sinne des gescheiterten Romanautoren und Dramatikers Henri Desgrange, der die Tour de France Anfang des Jahrhunderts als Bühne für Schmerz und Leiden, aber auch für intellektuelle Horizonterweiterung erfunden hatte. Desgrange sollte wenig später einen Narren an dem polyglotten Deutschen fressen, der über Vogeljagd sinniert, sich im Casino vergnügt, das Grab des Dichters Heinrich Heine in Paris aufsucht oder auch dem neuesten Schrei nachjagt. In Monaco sucht Stöpel nach einem Buckligen, der Glück verheißt, wenn man ihm über seine Höcker streicht.
Im Pyrenäenort Luchon besucht ihn sein Kontrahent Leducq. "Er ist in seinem Schlafanzug über die Straße gekommen. Wir sprechen kaum über das Rennen, sondern über schöngeistige Dinge", berichtete Stöpel. Radprofis, die sich im Schlafanzug besuchen und über "schöngeistige Dinge" reden? Was für eine Zeit, dieses Jahr 1932? Was für Protagonisten!
Leducq gewinnt nach 4.479 km (offizielle Tourstatistik) mit 24 Minuten und drei Sekunden Vorsprung vor Stöpel. 24 Minuten hat er durch Zeitgutschriften bei Etappensiegen (in jenem Jahr erstmals eingeführt) errungen. Auch wegen dieses damals winzigen Vorsprungs hatte Leducq in Paris seinen Siegerblumenstrauß an Stöpels Ehefrau mit den Worten überreicht: "Madame Stöpel, wir beide, Kurt und ich, haben die Tour de France gewonnen!"
Am 11. Juni 1997 stirbt Kurt Stöpel. Er wollte sich in seinem Altersheim in Berlin-Kladow etwas zu trinken holen. Er verwechselte die Flasche und griff zu einem Reinigungsmittel. Einen Monat später wurde Jan Ullrich der erste Deutsche, der die Tour de France gewann. Am 6. Mai 2008 wird Kurt Stöpel in Berlin in die "Hall of Fame" des deutschen Sports aufgenommen. Neben dem Bahnsprinter Albert Richter ist er der einzige Radsportler in dieser Ruhmeshalle. Vor zwei Jahren, vor Operacion Puerto, wäre für Jan Ullrich hier wohl auch noch ein Platz frei gewesen. Von Stöpel sind die Worte überliefert: "Die Natur lässt sich nicht ungestraft vergewaltigen, jeder Organismus, der durch solche Dosis Gift aufgepeitscht wird, muss eines Tages versagen." Kurt Stöpel wurde 89 Jahre alt.
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