Russischen Sekte wartet auf Apokalypse: Osterpause vom Weltuntergang
Seit Oktober wartet die russische Sekte der "wahren Orthodoxen" in einem Höhlensystem auf den Weltuntergang. Nur am Osterfest, da wollen sie noch mal kurz herauskommen.
Moskau taz Pjotr Kusnezow war Ingenieur bei den Elektrizitätswerken in Pensa und ein vorbildlicher Familienvater, bevor er vor fünf Jahren Job und Familie Hals über Kopf verließ und sich in dem kleinen Dorf Nikolskoje 600 Kilometer südöstlich von Moskau niederließ. Dort zog er in die verfallene Holzkate der Eltern ein und gründete eine Sekte: die "Wahre russisch-orthodoxe Kirche". Nikolskoje, das vom Aussterben bedroht war, lebte wieder auf. Aus ganz Russland trafen Anhänger ein.
Landesweit von sich reden machte Kusnezow erst im Herbst 2007, als die Mitglieder der Endzeitsekte plötzlich wieder verschwunden waren und die Polizei sich einschaltete. Einige dutzend Sektierer waren in ein unterirdisches Tunnelsystem herabgestiegen, das der Ingenieur entworfen und ausgehoben hatte. Vierzig Meter unter der Erde lebt die Glaubensgemeinschaft ohne Strom und Licht in Erwartung des Weltunterganges, den Kusnezow für den kommenden Mai vorausgesagt hatte.
Unter den Höhlenmenschen waren auch Kleinkinder. Die Sekte weigerte sich, der Aufforderung der Polizei zu folgen und ans Licht zurückzukehren oder wenigstens die Kinder herauszugeben. Als die Ordnungshüter die Höhle stürmen wollten, drohten die Gläubigen stattdessen, sich mit Kerosin zu verbrennen. Seither wachen Ordnungshüter über dem Eingang in die Unterwelt, die mit Mönchszellen und Waschgelegenheit ausgestattet sein soll. Nach Aussagen Kusnezows reichen die Lebensmittelvorräte für einige Jahre.
Der Sektenführer Kusnezow folgte den Anhängern im Herbst nicht in die Höhlenwelt. Das machte sein Handeln besonders suspekt. Wegen Freiheitsberaubung wurde er im November festgenommen und in psychiatrische Behandlung übergegeben. Nach monatelanger Observation erklärten Gutachter Kusnezow jetzt für nicht zurechnungsfähig. Nach einem erneuten Versuch der Polizei, die Anhänger zum Verlassen ihrer Bleibe aufzufordern, waren die Beamten Anfang der Woche durch den Ventilationsschacht beschossen worden. Das Ministerium für Katastrophenschutz ließ Abflusskanäle graben, um Schmelzwasser am Fluten der Höhle zu hindern. Neben dem Einstieg in die Dunkelwelt warten Krankenwagen mit getönten Scheiben für den Fall, dass die geblendeten Apokalyptiker vorzeitig wieder auftauchen. Inzwischen soll sich die Sekte bereit erklärt haben, zum orthodoxen Osterfest am 27. April die Bleibe zu verlassen.
Geld, TV, Internet und Strichcodes auf Lebensmitteln hält die "wahre Orthodoxie" für die schlimmsten Feinde der Menschheit. Scharlatane wie Kusnezow bevölkern zu Hunderten die russischen Weiten. Mehr als 700 Sekten mit bis zu einer Million Jüngern treiben in Russland ihr Unwesen. Die meisten berufen sich auf den orthodoxen Glauben, den sie aber von vermeintlichen Entstellungen der Amtskirche zu läutern vorgeben.
Eine besondere Nähe zwischen orthodoxen und heidnischen Ritualen, der sogenannte Doppelglaube, leistete schon immer Obskurantismus und Sektierertum Vorschub. Gleichzeitig bereitete er fruchtbaren Boden für alle Arten von Utopismen, gegen die auch Vertreter des Materialismus in Russland nicht gefeit waren. Empfänglichkeit für Aberglauben und Irrationales konnten auch Atheismus und Kommunismus nicht tilgen.
Vor diesem Hintergrund sind das Treiben der Kusnezow-Sekte und die ungewöhnliche Fürsorge und Nachsicht der Staatsorgane nicht verwunderlich. Das Sektenwesen stellt keine systemfremde Erscheinung dar, sondern ist lediglich eine radikalere Umsetzung und Fortschreibung einer weit verbreiteten Welt- und Lebenssicht, die sich mit aller Kraft gegen Rationalisierung und Vernunft zur Wehr setzt.
Einem besonders berühmten Messias huldigt die Sekte "Russlands Wiedergeburt" in Nischnij Nowgorod: Die Wiedergeburtler halten Wladimir Putin für die Reinkarnation des Apostel Paulus, der auf die Welt gekommen ist, um jene zu retten, die sich vom Licht der Welt verführen ließen. Sektengründerin Mutter Photina saß vor der Erleuchtung wegen Betrugs im Gefängnis.
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