"Vampirismus-Vorlesungen": Untote, wohin man blickt
Literaturwissenschaftler Rickels führt in seinen "Vampirismus-Vorlesungen" Stokers "Dracula", Freuds Psychoanalyse und das Kino zusammen.
Bram Stokers Vampirroman "Dracula" erschien im Jahr 1897. Zur selben Zeit entwickelte Sigmund Freud seine Psychoanalyse als Wissenschaft vom Unbewussten, und es entstand als Illusion des bewegten Bildes die technologische Aufnahme- und Projektionsapparatur des Kinos. In seinen "Vampirismus-Vorlesungen" unternimmt der Literaturwissenschaftler Laurence A. Rickels den Versuch, diese drei Phänomene zusammenzudenken. Mehr noch, Vampirismus-Diskurs und Psychoanalyse sind für ihn eins, genauer gesagt: "Psychoanalyse und Vampirismus sind die miteinander konkurrierenden Wissenschaften des Untoten". Dazu kommt das Kino: "Zerschneiden, sezieren und zusammensetzen ergeben im Prozess des Filmschnitts einen Corpus, der durch Projektion belebt oder wiederbelebt wird." Untote, Wiederbelebte, wohin man blickt.
Der Vampir ist das, was tot schien, aber nicht ist. Er ist das, was wiederkehrt unter die Lebenden, ohne selbst lebendig zu sein. Er ist, mit Rickels gesprochen, die Verkörperung unserer Unfähigkeit, zu trauern. Freud sagt: Um zu trauern, müssen wir von dem, was gestorben ist, radikal Abschied nehmen, sonst bleiben wir ihm unglücklich verhaftet. Der Name für dieses Verhaftetbleiben ist eben "Melancholie" und der Vampir führt vor Augen, welche Anstrengung es kostet, die Melancholie zu überwinden. Man muss, anders gesagt, um trauern zu können, das töten, was tot ist, oder, mit der dem Thema angemessenen Drastik: dem, von dem man nicht los kommt, mit eigener Hand den Pfahl durchs Herz treiben. Erst einmal ist jeder Tote aber Vampir, geht um, in uns und auf der Leinwand.
Das ist die Grundkonstellation, von der Laurence Rickels ausgeht. In 18 Vorlesungen - im Original waren es 26 - montiert er den Vampirismus, das Kino, die Psychoanalyse gegeneinander: in wilden Schnitten und Überblendungen. Er zieht aus seinem Material steile Thesen ("Bei Rache geht es vor allem um die Unfähigkeit, sein lassen zu können, dass die Dinge passieren und sich als andere ausgeben"), schroffe Behauptungen ("Vergessen Sie nicht, dass Lust alles ist") und erläutert beziehungsweise suggeriert Zusammenhänge zwischen Post und Spionage, Medientechnik und Emanzipation, Bram Stoker und Ödipus. Es gehen dabei Lektüren von Büchern und Filmen, Rekapitulationen der Psychoanalyse, Andeutungen, Umdeutungen und mehr oder minder gewaltsame Assoziationen in-, wenn nicht durcheinander. Das Buch ist sich dessen bewusst, es unterstützt und unterstreicht in seiner grafischen Gestaltung nachdrücklich diese Unordnung: mit einer Vielzahl unterschiedlicher Schrifttypen, mit grafischen Pointen (die Anführungs- und Abführungszeichen verstehen sich ausdrücklich als Vampirzahnsymbole) und der buchstäblichen Überlagerung von Texten.
Die Stärke, die Schwäche dieser Vorlesungen, die eine einzige Gedankenflut und Gedankenflucht sind: Rickels lässt nichts aus. Er argumentiert nicht, sondern behauptet. Er nimmt sich, was er braucht an Thesen, von Freud und Lacan (später auch Friedrich Nietzsche), um die fiktionalen Filme und Texte zu erläutern. Da wird kannibalisiert, inkorporiert und projiziert, dass es eine Lust ist. Und wahrlich: Nichts Vampirisches ist Rickels fremd. Von Stoker - Vorgeschichte des Vampirismus inklusive - bis Anne Rice, von Ed Wood bis Andy Warhol, von Tod Browning bis Ken Russell. Und nichts liebt der in Santa Barbara lehrende Rickels, dessen aufs Akademischste antiakademischer Habitus manchmal etwas geradezu penetrant Kalifornisches hat, so sehr wie die flotte Formulierung, das kalauernde Wortspiel. Manchmal kapituliert der von seiner Vorlage mitunter arg ins Rudern gebrachte Übersetzer Egbert Hörmann, dann wird in anderer Schrifttype das Original zwischen die Zeilen gestreut: "All this, by the way, can be and has been taken clitorally." Post-Punk-Freudianismus nennt Rickels das in der Einleitung selbst. Mal reißt es hin, mal nervt es kolossal. Kalt lassen einen diese "Vampirismus-Vorlesungen" keinesfalls.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!