Theaterstück: Doktor Tod und Doktor Niemand

In der Tiergartenstraße planten die Nazis den Massenmord an psychisch Kranken und Behinderten. Das Theaterstück "Tiergartenstraße 4 erinnert an diese Verbrechen

Er hat sie nicht getötet, das denkt er immer noch, er hat sie erlöst. Und jetzt möchte er selbst erlöst werden. Dr. Aquilin Ullrich, der sich mittlerweile Schmitt nennt, sitzt in einem Seniorenheim. In seinem Bauch wuchern Metastasen. Er will sterben, aber niemand hilft ihm. Ullrich hat damals fast allen geholfen, egal, ob sie geistig behindert waren, psychisch krank, blind. Schwachsinn, Schizophrenie, erbliche Fallsucht. So lauteten die Todesurteile. Allein zwischen Januar 1940 und August 1941 wurden 70.000 Menschen in die nationalsozialistischen Tötungsanstalten gebracht. Insgesamt sind es etwa 275.000 gewesen. Das haben die Richter der Euthanasieprozesse später geschätzt.

Es sollte auch zu Zeiten der NS-Herrschaft niemand mitbekommen, wie die Planer des Führers sein Volk für eine reine Zukunft säubern ließen. Deshalb wurden die Totenscheine gefälscht. Mastdarmvorfall-Kratzinfektion, stand dann dort etwa. Nicht: Kohlenmonoxidvergiftung. Die Opfer wurden oft nur wenige Sekunden lang untersucht, bevor man sie mit Pflastern kennzeichnete und in die Kammern brachte. Anschließend sollten den Markierten Goldzähne oder Gehirne entnommen werden - in den wissenschaftlich besonders interessanten Fällen.

Die Behörde für die Organisation dieser Massenmorde hatte ihren Sitz dort, wo sich heute die Berliner Philharmonie befindet. Seit Anfang des Jahres steht auf dem Vorplatz ein grauer Bus. Er soll an die Transporte in die Tötungsanstalten erinnern, die von der Stadtvilla aus, die es heute nicht mehr gibt, koordiniert wurden. Die Adresse der Euthanasiezentrale: Tiergartenstraße 4. So heißt auch ein Stück des Autors Christoph Klimke, das gerade in der Tribüne uraufgeführt wurde. Im Zentrum steht eben jener Dr. Aquilin Ullrich.

Es hat ihn wirklich gegeben. Ein Arzt aus dem süddeutschen Dillingen, der zwischenzeitlich einmal Theologie studiert hatte. Er leitete eine Tötungsanstalt in Brandenburg und arbeitete später an einem Euthanasiegesetz mit, das jedoch nie in Kraft getreten ist. Selbst nach NS-Recht waren die Krankenmorde illegal.

Der Autor Christoph Klimke hat nun diesen historisch beurkundeten Ullrich genommen und eine fiktionale Figur aus ihm gemacht. Tatsächlich ist Ullrich schon tot. Aber bei Klimke lebt er noch und leidet in einem Seniorenheim vor sich hin. Krebskrank, austherapiert, keine Chance mehr auf Heilung. Höchstens auf das, was der überdrehte NS-Ärzte-Chor zu Beginn des Stückes "Heilungshandlung" nennt. Ullrich möchte umgebracht werden.

Ulrich Voß macht diesen Arzt zu einem sturen, alten Mann, der von seiner kalten Grausamkeit nichts verloren hat. Fast hexenhaft lacht er, wenn er von dem durchsichtigen Fisch erzählt, dessen Beute man noch sehen kann, nachdem er sie verschluckt hat. Ullrich bereut nicht, er beharrt auf diesem perversen Erlösungsgedanken. Dick, bräsig, im dunklen Dreiteiler mit weinrotem Hemdkragen. Selbst wenn er davon erzählt, wie er nach dem Krieg als Gynäkologe praktiziert und ein Aquarium im Wartezimmer aufstellt, das die Patienten so angenehm beruhigt, wirkt er wie ein überzeichnetes Menschmonster.

Manfred Borges als Karl Niemand dagegen, jägergrüne Hose, erdbraune Jacke, ist ein schmächtiges Männlein, dem die Last der Vergangenheit sichtbar auf den Schultern liegt. Er sollte als Kind umgebracht werden und kümmert sich jetzt als Arzt um den Kollegen Ullrich. Das Opfer trifft auf den Täter. Was Niemand in der brandenburgischen Tötungsanstalt Görden erlebt hat, bevor er mit seinen zehn Jahren fliehen konnte, verfolgt ihn bis in seine Träume. Immer wieder geht er auf das Bett zu, lüftet das Laken und sieht darunter seine Schwester Rike liegen. Ein Loch im Kopf. Dort wo Augen waren: schwarze Fliegen.

Es ist einer der intensivsten Augenblicke des Stücks, weil das Bild den Schrecken dieser Taten auf brutale Weise verdeutlicht. Rike wurde wegen ihrer Hasenscharte in die Tötungsanstalt gebracht. Ullrich ließ sie eine Nacht lang auf den Balkon schieben. Sie starb an einer Lungenentzündung. Danach schnitten sie ihr das Gehirn aus dem Schädel.

Die Szene ist eine der konkretesten in dieser Aufführung, die in großen Teilen dokumentarischen Charakter hat. Am Anfang sitzt Niemand zusammengesunken auf einer verdunkelten Bühne. Eine rechteckige Einlassung in einer völlig schwarzen Wand. Darauf: vier Stühle, ein Hocker. Hinter ihm beginnen Schatten ihre Geschichten zu referieren. Eine psychisch Kranke, ein Schwuler, eine Sinti. Lebensunwerte Leben. Sprechende Akten. Verfolgte. Ermordete. Auch wenn später Menschen auf der Bühne stehen. Sie erzählen ihre Lebensgeschichten nicht, sie referieren sie eher. Und auch eine wesentliche Frage, die Klimke offenbar mit dem Stück stellen möchte, kommt trocken wie ein sachliches Referat daher: Darf man Menschen, die nicht mehr leben wollen, beim Sterben helfen?

Der Autor packt dieses unglaublich komplexe Thema in wenige ethisch-moralische Dialogzeilen mit klarer Rollenverteilung. Man muss das dürfen, sagt Aquilin Ullrich. Man darf das unter keinen Umständen, antwortet Niemand. Hinter den Thesen stehen zwei Biografien als Argumente. Auf der einen Seite das lebenslange Opfer. Auf der anderen Seite der unbelehrbare Täter.

Es ist völlig klar, welches Argument in der Logik des Stücks gewinnt. So hat auch Niemand, der Arzt sein will und kein Henker, das letzte Wort. Eine Verbindung, die Klimke zwischen den Morden von damals und der aktuellen Debatte zieht, ist finanzieller Natur. "Ein Geisteskranker kostet vier Reichsmark am Tag, ein Verbrecher nur 3,50 Reichsmark", sagt einer der Tötungsärzte. Auch die Pflege Ullrichs, des Todkranken, verschlingt Tag für Tag Geld, wird später erwähnt. Ausgaben, die sich die Gesellschaft sparen könnte. Aber der grundlegende Unterschied bleibt: Ullrich will sterben. Die Menschen, die er umbrachte, wollten leben.

Es sind 2.340 gewesen. "Beihilfe zum Mord" lautete ein Gerichtsurteil von 1988. Ein Jahr zuvor war Ullrich wegen desselben Vergehens in 4.500 Fällen verurteilt worden. Zwanzig Jahre vorher wiederum hatte man ihn noch freigesprochen. Begründung: fehlendes "Bewusstsein der Rechtswidrigkeit". Die Ärzte hätten ja gedacht, es gehe nur um Geisteskranke ohne Lebenswillen. Zu einem Prozess in den 70er-Jahren konnte Ullrich nicht erscheinen, weil sein Gesundheitszustand es angeblich nicht zuließ. Derselbe Zustand erlaubte es ihm aber, seine Praxis weiterzuführen. Nach seiner Verurteilung 1988 musste er 20 Monate ins Gefängnis. Er starb 2001.

Diese biografischen Details trägt der Ullrich aus "Tiergartenstraße 4" nur teilweise vor, weil sein fiktives Leben etwas anders verlief. Das Stück bezieht aber durchaus Stellung zum deutschen Umgang mit den T4-Morden, wenn etwa der Enkel Ullrichs die Rolle seines Großvaters verharmlost ("Klar hat es auch Sauereien gegeben.").

Das öffentliche Bewusstsein für die Tötungen ist nicht besonders ausgeprägt. Darauf weist am Premierenabend vor den Türen der Tribüne der Landesverband Psychiatrieerfahrener mit Flugblättern hin. Karl Bonhoeffer etwa, der zu NS-Zeiten für die Zwangssterilisation psychisch Kranker gesorgt habe, sei nie angeklagt worden und diene noch heute als Namensgeber für eine Berliner U-Bahn-Station. Die Opfer seien schließlich "andere". Schwule, Schizophrene, psychisch Kranke. Ihnen fehle die Lobby.

"Tiergartenstraße 4" erinnert 67 Jahre später wieder an die Morde deutscher Ärzte. Das Stück ist am eindrucksvollsten in seinen letzten Minuten. Wenn es ganz still ist und dunkel im Saal. Und in schwarz und weiß wie ein Abspann Namen und Taten über die Leinwand laufen. Die nackten Buchstaben und Zahlen entfalten eine ungeheure Wucht.

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