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Engagierte und ihre BetroffenheitGewissen demonstrieren

Die Proteste gegen Chinas Tibetpolitik sind völlig gerechtfertigt. Aber warum müssen Engagierte in Deutschland dabei ständig ihre eigene Betroffenheit ausstellen?

Betroffenheit zeigen: Demonstranten bei einer Tibet-Demo in Berlin Bild: dpa

"Was kostet mich mein schlechtes Gewissen?", fragt ein Chatter mit Blick auf die Menschenrechtssituation in China und bringt damit knochentrocken die Debatte, die die Sportwelt - und nicht nur sie - seit Wochen bewegt, auf den Punkt.

Wer sich körperlich und moralisch fit halten will, hat dieser Tage seine täglichen fünf Tibeter längst um eine sechste Übung ergänzt. Auf "Brücke" und "Berg" folgt "Blog": das forcierte medienöffentliche Nachdenken darüber, was gegen die chinesische Tibetpolitik im Zeichen des olympischen Spektakels zu unternehmen sei.

Seit dem Fackelspießrutenlauf zum Zielort kapitalistischer Wunsch- und menschenrechtlicher Alpträume ist das Leiden der Tibeter (wieder einmal) in allen Köpfen. Und richtet dort mitunter seltsame Verwüstungen an. Insbesondere die Sportler, die eine Balance zwischen dem verständlichen Wunsch, nach langer Trainingsschinderei an den Spielen teilzunehmen, und dem ebenso nachvollziehbaren Bedürfnis suchen, dies nicht kritiklos zu tun, quält ein notorisch schlechtes Gewissen. Man ist betroffen - und gibt das vor laufender Kamera und Mikrofon jederzeit bereitwillig kund. Samt dem unverzichtbaren Additiv, die Gewissenspein sei ungeheuerlich.

Dass wir Deutschen ein Volk von Betroffenheitskünstlern sind, kann nicht unbedingt als Neuigkeit gewertet werden. Aufmerksamkeit gebührt indes den neuen Thematisierungsformen und -feldern, die ein bekenntnishaftes An-die-eigene-Brust-Schlagen herauszufordern scheinen. Denn lange Zeit waren wir in erster Linie mit uns selbst beschäftigt. Der negative Gründungsmythos der zweiten deutschen Republik, der Holocaust, war das Thema, das alle moralischen Energien zu verschlingen schien. Ein guter Teil der deutschen Nachkriegskultur gründete darauf, dass man die Schuldfrage nicht nur retrospektiv historisch und politisch stellte, sondern noch die Nachgeborenen ihr Gewissen daraufhin befragten, wie man sich denn damals wohl verhalten hätte. Wie es scheint, wird nun, just zum Zeitpunkt des unweigerlich bevorstehenden Todes der letzten Zeitzeugen, ethische Kapazität für andere Themen frei.

Seitdem wir mit stolz geschwellter Brust als Aufarbeitungsweltmeister durch die Welt laufen und deutsche Vergangenheitspolitik zum Exportschlager bis ins südlichste Afrika geworden ist, haben wir die Errungenschaften einer prononcierten Schuldkultur zu schätzen gelernt; und scheinbar zugleich Nietzsches Forderung nach "Fernstenliebe" mit Löffeln gefressen. Dass es oft gerade die fernen Länder sind, die unsere Bereitschaft zum kritischen Engagement herausfordern, hängt ohne Zweifel mit der Möglichkeit zur Idealisierung zusammen. Fraglos eignet sich ein Land wie Tibet in seiner Doppeldeutigkeit aus bewunderungswürdiger Exotik und vermeintlich New-Age-naher und damit den eigenen Lebenskreis berührender Kultur besser zu Identifizierungen und Solidaritätsadressen als andere Zonen der Welt. Um Missverständnisse zu vermeiden: Niemand will am Engagement gegen ein offenkundiges Skandalon herumkritteln. Gerade wer es ernst nimmt, kommt jedoch nicht umhin, einige kritische Fragen aufzuwerfen. Die nach dem politischen Sinn so mancher Forderung und die nach der offenkundig ebenso schnell auflodernden wie versickernden Protestkonjunktur sind zu Recht gestellt worden. Aber wir haben uns auch zu fragen, woher hierzulande der offenkundige permanente Zwang zur Gewissensprüfung rührt. Zumal, wenn die mediale Exposition der Gewissensqual zur vorweg genommenen Exkulpation wird, sich dann doch der "olympischen Disziplin" unterzuordnen.

Wenn die peinliche Selbstbefragung nicht zum beliebigen Ritual (und dafür haben wir Deutschen tatsächlich Talent!) verkommen soll, dann gilt es, die Frage so hart zu stellen wie der zitierte Chatter: "Was kostet mich mein schlechtes Gewissen?" Es ist allein diese Münze, die zählt. Kein vernünftiger Mensch wird einen Sportler für seine Teilnahme an den Spielen diskreditieren, wer immer es tun will, soll es. Aber bitte ohne den moralischen Extraprofit des ach so gequälten Gewissens. Der alte Sinnspruch, nach dem ein gutes Gewissen ein sanftes Ruhekissen sei, hat sich im Zeitalter der globalisierten Betroffenheitskultur ins Gegenteil verkehrt - jedenfalls wenn es darum geht, ebenso öffentlich wie folgenlos sein persönliches moralisches Dilemma im Weltmaßstab zu inszenieren. Dann gilt: Die bei weitem komfortabelste Kopfstütze für den ethischen Tiefschlaf ist ein demonstrativ einbekanntes schlechtes Gewissen. Und das gibt es auch noch gratis.

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1 Kommentar

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  • A
    Anne

    Christian Schneider scheint Betroffenheit und schlechtes Gewissen nicht auseinander halten zu können - neben ein paar anderen Peinlichkeiten.

     

    Kleine Hilfestellung zur erweiterung der emotiven Intelligenz: Ein schlechtes Gewissen setzt voraus, sich für etwas wesentlich schuldig oder mitschuldig zu fühlen, Betroffenheit nicht.

     

    Und: Was soll überhaupt schlecht daran sein, soll, Betroffenheit über ein Verbrechen zu zeigen?

     

    Ein Buch von Raoul Hilberg heißt "Täter, Opfer Zuschauer". Lernen wir also aus der Geschichte, uns bei Verbrechen großen Ausmaßes künftig immer, soweit wir (vermeintlich) bloße Zuschauer sind, ähnlich wenig betroffen zu sein wie z.B. die 'Zuschauer' damals, nach dem Motto: Ach, was geht mich das an?