piwik no script img

Empörung über Vera-Test aller DrittklässlerHeulende Kinder beim Schultest

Erste Vergleichsarbeit aller dritten Klassen löst Tränen und Empörung aus. "Zu viele Leseanteile im Test". Und eine Zeitung veröffentlichte die Aufgaben zu früh.

Die "Vergleichsarbeiten in der Grundschule" (Vera) nahmen alle Drittklässler in zwölf Bundesländern unter die Lupe. Bild: dpa

Eine ganze Stunde schwitzten die Drittklässler der Göttinger Godehardschule über dem Test. Sie mussten eine kleine Geschichte lesen und herausfinden, wen die Tiere darin zu ihrem König gewählt haben: die Schildkröte oder den Hasen. Der Test "war auf jeden Fall viel schwerer als vorangegangene Vergleichsarbeiten", urteilt Schulleiterin Karla Koch, "sehr umfangreich und sehr breit gefächert". Eine Kollegin aus der Höltyschule sagt gar, sie habe beobachtet, dass "einige Kinder schon geheult haben".

Wenn deutsche Schulen getestet werden, gibt es immer Heulen und Zähneklappern. Diesmal ist es besonders laut. Denn anders als bei vorherigen Schulleistungstests wie Pisa wurde nicht nur eine Stichprobe von 5.000 Schülern getestet. Die "Vergleichsarbeiten in der Grundschule" (Vera) nahmen diese Woche knapp 600.000 SchülerInnen unter die Lupe, das sind alle Drittklässler in zwölf Bundesländern. Im Sommer sollen die Ergebnisse des Tests für Mathe und Deutsch vorliegen - aber für die Öffentlichkeit gesperrt bleiben. Nur Schulen, Forscher und Kultusminister sollen sie bekommen. Schon die Testwoche lässt daran Zweifel aufkommen.

In Niedersachsen nämlich, wo es diesmal die lautesten Klagen gab, veröffentlichte eine Zeitung den ganzen Test. Die Hannoversche Allgemeine Zeitung stellte den Fragebogen ins Netz - bevor er in Berlin und anderen Bundesländern überhaupt geschrieben war. Sofort gab es Geschrei. Kultusministerin Elisabeth Heister-Neumann (CDU) ließ anklingeln, das sei Wettbewerbsverzerrung. Also nahm die Zeitung das Papier wieder aus dem Netz - womöglich, weil sie Angst hatte, die niedersächsischen Schüler dumm dastehen zu lassen. Das testleitende Institut der Universität Landau erwägt nach taz-Informationen sogar eine Klage gegen die Zeitung.

Didaktiker übten schwere Kritik an der Testgestaltung. "Es gibt so viele Leseanteile in diesem Test, dass von 55 Minuten Gesamtbearbeitungszeit allein 30 Minuten gebraucht werden, um den Test zu lesen", sagte etwa die Hildesheimer Pädagogikprofessorin Margitta Rudolph. "Das halte ich für erheblich zu umfangreich für die Kinder. Sie sind an der Stelle unter einem extrem hohen Druck."

Aber der Stress ging los, ehe die Kinder ihre Aufgaben lösten. Mehr als eine Seite mussten die acht- und neunjährigen Kinder zunächst verschiedene Aufgabentypen durcharbeiten. Da grübelten anschließend selbst Eltern zu Hause, ob nur ein Kreuzchen oder ob mehrere gesetzt werden sollen. "Ausländische, aber auch viele deutsche Kinder werden das schlicht und einfach nicht verstehen", klagte eine Deutschlehrerin. Eine andere bemängelte, dass unabhängig von Schulbezirk oder Sozialraum alle Schulen über einen Kamm geschert würden.

Ein Missverständnis: Wenn die Kultusminister ihr Versprechen halten und die Tests ausschließlich zur Diagnose der Schulen benutzen, ist es egal, ob der Bogen im Brennpunkt- oder im Villenviertel beantwortet wird. Denn mit der flächendeckenden Abfrage seien eben keine Zensuren für Schüler verbunden.

"Die Vergleichsarbeiten dienen der Sicherung der Unterrichtsqualität und nicht der Beurteilung einzelner Schüler", sagte die Ministerin Heister-Neumann der taz. Auch die Landauer Forscher wollen von Noten nichts wissen. Der Test solle zur Entwicklung der Schulen beitragen. Allerdings blieb noch kein Schultest in Deutschland geheim. "Manchmal werden Befürchtungen geäußert, dass die Vergleichsarbeiten für ein Schulranking verwendet werden. Aber dafür ist das Verfahren nicht geeignet", sagt Projektleiter Ingmar Hosenfeld von der Uni Landau.

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen

4 Kommentare

 / 
  • HM
    Herbert Maier

    Hallo Herr Neffe,

     

    Sie haben völlig recht. Alle Verantwortlichen für diesen Testblödsinn müsste man wirklich testen.

     

    Denn Schwachsinnsfragen blicken deutsche Kinder nicht.

    Oder wer kann mir folgendes Beispiel aus dem aktuellen Deutsch Veratest erklären?

     

    ------

    Der Opa hat eine ganz wichtige Piratenregel erklärt:

    "Du darfst niemals keinem nicht veraten, dass du mal Pirat warst.

    Hat Toms Opa sich an diese Regel gehalten?

    Begründe deine Antwort.

    -------

    ...niemals keinem nicht verraten...

    Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen.

     

    Und überhaupt! Haben eigentlich die Verfasser dieser Piratenklamotte nicht mitbekommen, was seit Jahren rund um Somalia passiert?

    Mann oh Mann - den Kindern einen solchen Text vorsetzen - Unglaublich

     

    Herbert Maier

  • EL
    Ein Leser

    Um an dieser Stelle auch das Positive zu erwähnen, soll noch einmal betont werden, dass die Lernstandserhebungen nicht dazu dienen, ein Ranking von Schülern, Schulen oder Ländern zu erstellen.

    In erster Linie sollen sie einem Lehrer zwei Dinge verdeutlichen.

    Wo steht seine Klasse in Bezug auf die Bildungsstandards?

    Was hätte er/sie erwartet, wo die Klasse steht?

     

    Folglich ist VERA eine Hilfe für den Lehrer (oder zumindest als solche gedacht), um Informationen zu seiner Klasse und zu seinen diagnostischen Fähigkeiten zu erhalten.

     

    Kommentare, die grundsätzlich immer eine Schuld suchen, vorzugsweise bei Lehrern und Testern, machen die angespannte Lage im Feld der Leistungsstudien nicht einfacher.

  • HH
    Hans-Werner Hunziker, Lernpsychologe

    Im 3. Schuljahr beträgt die durchschnittliche Lesegeschwindigkeit etwa 80 Wörter pro Minute.

    Das bedeutet, dass die langsamsten Leser etwa 40, die schnellsten Leser etwa 160 Wörter pro Minute lesen. Wenn Aufgaben gestellt werden, in denen mehr als die Hälfte der Zeit von durchschnittlichen Lesern für das Lesen der Aufgaben gestellt werden, können die langsamsten Leser knapp die Aufgaben lesen und haben dann keine Zeit mehr zum Antworten.

    Fazit: Man würde einfacher nur die Lesegeschwindigkeit mit Satzverständnis prüfen, was an einem PC etwa 5 Minuten dauern würde.

  • FJ
    Franz Josef Neffe

    Mein muss sich einmal vorstellen, dass in Deutschland die Lebensmittel so getestet würden! Da säßen die Tester längst alle im Gefängnis!

    Schultests sind offenbar etwas besonders Exclusives, wovon jeder etwas anderes weiß und am Ende gar keiner was, und das ist dann die Grundlage für die neue Entwicklung.

    Wenn man die Betrachtung dessen, was der Schüler macht, so gestaltet, dass der "Tester" überhaupt gar nichts zu können braucht - nicht einmal wahrnehmen, dann ist das ein Schultest.

    Das erinnert mich an Andi, den ich in der psychiatrischen Jugendklinik kennengelernt habe. Mit 6 machte man mit ihm drei Intelligenztests, weil man ihn gern in der G-Schule gehabt hätte (da er wegen eines angewachsenen Zungenbändchens im Kindergarten der Lebenshilfe gelandet war); die Eltern wollten aber nicht. Nach einem der 3 von verschiedenen Institutionen durchgeführten Tests wäre Andi geistigbehindert gewesen, nach einem normal und nach einem lernbehindert.

    Als ich Andi mit 15 schwer adipös aber geistig flexibler als seine Förderer in der 6.Klasse traf, hatte man ihn auf IQ ,065 heruntergetestet. Ich testete ihn mit dem Ziel, herauszufinden, was drin ist, und hörte bei 0,95 auf, als er anfangen wollte, mir wegen des Scheiß-Tests Bücher an den Kopf zu werfen. Er hatte recht!

    Seither weiß ich, dass jeder Test immer zu einem ganz bestimmten Zweck gemacht wird - und es ist nie der Zweck, den man dir sagt.

    In der neuen Ich-kann-Schule würde man sagen: Langsam wird es Zeit, die Tester zu testen. Ich grüße herzlich.

    Franz Josef Neffe