Was sagt die Statistik?: Gnadenlose Effektivität
Nicht langer, überlegter Spielaufbau führt bevorzugt zum Tor, sondern der schnelle Gegenschlag. Das sagen Statistiker. Und das beweist auch der 2:0-Erfolg des deutschen Teams gegen Polen.
In einer Analyse des modernen Spiels der Düsseldorfer Agentur Mastercoach International, deren Spieldaten regelmäßig unter anderen von Jogi Löws Trainerteam genutzt werden, war kürzlich zu lesen, wenn der Ball nach Balleroberung mit nur zwei weiteren Berührungen im gegnerischen Strafraum lande, führe das in 70 Prozent der Fälle zu einem Tor. Im Spiel des deutschen Teams gegen das polnische von Leo Beenhakker am Sonntag in Klagenfurt waren es drei Berührungen. Der Ball, erobert durch eine Störaktion Philipp Lahms, landet bei Mertesacker; der (1) auf Lahm; Lahm (2) auf Gomez; Gomez (3) in die Lücke auf Klose, der in den Strafraum. Querpass auf Podolski, Tor. Beim zweiten deutschen Tor waren es zwei Berührungen nach Balleroberung; nur dass diese schon im Strafraum geschah.
Was diese Statistik sagt? Nicht langer, überlegter Spielaufbau mit langen Ballstafetten führt bevorzugt zum Tor, sondern der schnelle Gegenschlag nach plötzlichem Ballgewinn - die gegnerische Mannschaft im Kopf in der Vorwärtsbewegung. Auch das Tor der Tschechen gegen die Schweiz fiel so. Da war es nur eine einzige Ballberührung nach der Eroberung; die Schweizer Deckung in der Vorwärtsbewegung; ausgehebelt durch einen über sie gelobten Kopfball; Sverkos taucht durch die Viererkette, locht ein. Niederlage für die Schweiz, die 70 Minuten gegen das tschechische Tor anrannte. Und einen Lattenschuss erzielte. Dies grausame Los der spielerisch überlegenen, aber etwas weniger ausgekochten Mannschaft könnte noch andere optisch überlegene Teams treffen bei dieser EM. In den ersten Spielen dominierte jedenfalls eine Qualität: die Fähigkeit zur gnadenlosen Effektivität. Sie fehlte der Schweiz und Österreich; den gastfreundlichen Gastgebern. Tschechen und Kroaten spielten sie perfekt aus. Die Deutschen fast perfekt (Gomez verschenkte eine 100-Prozentige); nur die Portugiesen wichen ab. Sie fuhren ihren Sieg gegen die Türken aus überlegenem Spiel ein; hätte auch 5:0 sein können.
Lehre? Die Schweiz, um weiterzukommen, müsste die Türkei vielleicht etwas weniger ungestüm belagern. Den Moment des plötzlichen Überfalls erarbeiten, das Tor erzielen und außen gut dicht machen - die Botschaft Karel Brückners an Köbi Kuhn. Gut genug dafür ist die Schweizer Defensive, vielleicht. Im Spiel von Jogi Löws Team waren solche Überlegungen für mich klar zu sehen. Kein Spielaufbau über potenzielle "Fädenzieher" wie Michael Ballack; sondern schnelle, scharf in die Spitze oder auf die Außenpositionen gespielte Bälle; das sah einstudiert aus; Jogi Löws Handschrift, orientiert am ehesten an den Italienern und den Spitzenteams der englischen Premier League. Verlagerung des Spiels aus der Mitte auf die Außenpositionen: ebenfalls als Trend aufgelistet in den publizierten Mastercoach-Analysen. Jansen/Podolski links; Lahm/Fritz rechts als effektive Zangen. Besonders Clemens Fritz, bis zu seiner Auswechslung neben Podolski bester Mann auf dem Platz, nutzte die Gelegenheit, als offensiver Außenbahnmann zu glänzen. Die linke Seite Jansen/Podolski allerdings mit Mängeln in der Defensive. Die Sechser: Frings/Ballack, sehr solide. Durch die Mitte ging fast nichts für Polen; alle Gefahr kam über rechts. Löw wirds registriert haben.
Auch dass Schweinsteiger, der den leicht lädierten Fritz zehn Minuten nach der Pause ersetzte, dies durchaus gleichwertig tat. Löws Äußerung, der Basti habe seine Form noch nicht ganz, also eher eine kleine taktische Lüge. Löw hatte die Wahl, aus drei Kandidaten für die vorderen Positionen, Podolski, Gomez, Schweinsteiger, einen streichen zu müssen. Er opferte Schweinsteiger für Gomez. Mag sein, dass dessen etwas zaghaftes Spiel damit zusammenhing. Gomez fiel als Einziger etwas aus dem Gefüge, abgesehen von seinem gedankenschnellen Pass zum ersten Tor. Man kann dies aber auch als Beleg für die Vorteile eines eingespielten Mannschaftskorpus sehen; alle anderen im Team kennen sich sehr gut; Gomez ist der einzige noch etwas "Neue". Und neu für ihn selber, dass er nicht in der Spitze, sondern als Vorbereiter seinen besten Moment hatte. Das Ideal von ManU, dass vier, fünf Leute aus dem Mittelfeld bei Bedarf und bei Gelegenheit in die Lücke vorn torgefährlich stoßen können, während die Spitze, dort Ronaldo, hier Klose, vorn rochiert, ist in Löws Team angelegt. Seine Stärke ist klar die Offensive. Die Gefahr: unerwartete oder leichtfertige Ballverluste im Mittelfeld.
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