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spielplätze (15):"Also das ist Integration!"

Auf der Berliner Fanmeile, in Mitte, Unter der Hochbahn, am Mehringdamm etc.

Schalalalala: Jubelnde Besucher auf der Fanmeile in Berlin Bild: ap

Alle gucken wieder Fußball. Die taz auch. Bis zum Ende der EM berichten wir täglich live von den Berliner Spielplätzen. Heute: Türkei - Deutschland in ganz Berlin.

19.25 Uhr, Tiergarten-/Ben-Gurion-Straße: Am Eingang der Fanmeile tragen deutsche Fans ihre schwarz-rot-gelbe Kriegsbemalung auf.

19.45 Uhr, Fanmeile, Hauptleinwand, rechts vor dem Brandenburger Tor: Es ist eng im Getümmel. Ein dicker Mann mit Schnauzbart und aufgemalter Deutschlandfahne im Gesicht kaut genüsslich an seiner Currywurst, während Schweißperlen von seiner Oberlippe in die Pommes tropfen. Es riecht nach Schweiß, schalem Biergeruch und Frittierfett. Menschen schubsen und treten sich auf die Füße. Hier gibt es kaum Türkei-Fans - die warten ein Stück weiter links auf den Anpfiff. Eine Gruppe Jugendlicher scheint Spaß daran zu haben, die türkische Elf und jeden auf der Fanmeile, der eine Flagge mit Halbmond schwenkt, als "Dönerlieferanten" zu verunglimpfen.

19.55 Uhr, Fanmeile, Hauptleinwand: Ein deutscher Fan hat hat einem anderen deutschen Fan Bier über den Kopf gegossen. Sie sind sturzbetrunken. Prügeln und beschimpfen sich. Umstehende werden durch die Streithähne zur Seite gedrängt. Erst als Zuschauer eingreifen, wird es ruhiger.

20.10 Uhr, Straße des 17. Juni: Der Zugang zur Fanmeile ist wegen Überfüllung geschlossen, doch die Massen strömen von der Siegessäule aus weiter herbei. Die Polizei fordert über Lautsprecher zum Umkehren auf und versucht zu verhindern, dass die Menschen die Absperrgitter seitlich durch den Tiergarten umgehen. Doch die spärliche Polizeikette hält dem Druck nicht statt, Hunderte drängen jubelnd aufs Gelände.

20.25 Uhr, Brunnenstraße im Wedding: Drei Männer mit bettlakengroßen Türkeifahnen fahren im weißen Mercedes-Cabrio durch den Wedding Richtung Süden. An der Grenze zu Mitte kehren sie um. Drei ebenfalls türkisch aussehende Menschen fahren mit tischtuchgroßen Deutschlandfahnen im schwarzen BMW-Cabrio durch den Wedding Richtung Süden - und dann weiter nach Mitte.

20.43 Uhr, ein türkisches Restaurant am Görlitzer Park: Die Bierbänke sind voll besetzt. Horden von rot-weiß gekleideten und geschminkten Kindern hocken auf dem Boden vor der Leinwand. Frauen tragen leuchtend rote Kopftücher. Eine singt inbrünstig die türkische Nationalhymne mit. Ganz textsicher wirkt sie nicht. Dann die deutsche Hymne: Sie schmettert los. Und bleibt wieder hängen. Egal.

20.44 Uhr, Fanmeile, Hauptleinwand: Eine Kurzhaarfrisur im Poldi-Trikot XXL streckt zur Deutschland-Hymne die rechte Hand zum Hitlergruß und grölt leidenschaftlich mit. Für mehr als den Refrain reicht es nicht.

20.48 Uhr, Brunnenstraße in Mitte: 38 Sekunden nach Anpfiff knallen die ersten Böller.

20.51 Uhr, Fanmeile, Hauptleinwand: Ein flippiges Paar in Lila knutscht intensiv auf der Ampelstange. "Sex auf der Ampel", skandieren die Fans und singen mit Megafon: "Reißt die Ampel ab". Derweil missbraucht das lila Mädchen den Ampelmast als Gogo-Stange.

20.56 Uhr, "Vor Wien", Skalitzer Straße: Ein junger Mann quetscht sich bierbeladen vor dem Beamer durch die Menge und verdeckt für zwei Sekunden das Bild. Er wird niedergebrüllt. Sein Bier trinkt er im weiteren Verlauf des Spiels extra langsam, damit er nicht gleich wieder aufstehen muss.

21.10 Uhr, Containerkino an der Brunnenstraße: 0:1. Die gut 100 Zuschauer stöhnen, nur ein älterer Lockenkopf klopft sich jubelnd auf die Schenkel.

21.14 Uhr, Containerkino an der Brunnenstraße: 1:1. Die gut 100 Zuschauer springen jubelnd auf, nur ein älterer Lockenkopf guckt ganz betrübt.

21.14 Uhr, Fanmeile, im Getümmel: Torjubel, Fahnenmeer und Ekstase. Vier Kumpels spielen Loveparade. "Meine Stimme ist morgen tot", brüllt einer. Sein Freund: "Ich schreibe morgen eine Klausur. Da muss nur das Hirn funktionieren." Sein Bier schwappt bedenklich.

21.15 Uhr, Fanmeile, im Getümmel: Murat freut sich mit seiner deutschen Frau und klatscht brav mit. "Egal wer das Spiel gewinnt, Hauptsache gutes Spiel", bemerkt der Mann im Türkeitrikot. "So oder so, ich bin im Finale!"

21.20 Uhr, Großer Stern: Die beiden spanischen Straßenkünstler, die am frühen Abend mit ihren Jonglierkunststücken Geld verdienten, haben Feierabend gemacht. Es herrscht kaum noch Betrieb auf der Straße des 17. Juni, einer der größten Verkehrsadern Berlins.

21.30 Uhr, Straße des 17. Juni: Einige Zuschauer, die in der Fanmeile auf einen Pkw-Anhänger geklettert sind, entdecken, was sich unter der Plane befindet: Kistenweise Fanartikel. Weil diese großzügig in die Menge geworfen werden, findet sich in diesem Bereich kurze Zeit später kaum noch jemand ohne schwarz-rot-goldene Irokesenperücke und Trommelstäbe. Das hebt die Stimmung - nur der Besitzer des Fanartikelstands ist sichtbar frustriert, als er später den geplünderten Hänger entdeckt.

21.30 Uhr, im Schienenersatzverkehr auf dem Weg von Frankfurt (Oder) zum Hauptbahnhof: Nichts. Von außen dringt nichts bis in die Transportmittel. Nicht in den Zug, nicht in den Bus im Schienenersatzverkehr. Auch nicht, als es in Erkner in die S-Bahn geht. Kein Raunen, kein Grölen, keine Böller, kein Feuerwerk. Nur eine Gruppe französischer Jugendlicher, die "No, rien de rien, non, je ne regrette rien …" singen. Ich bedauere nichts, weder das Gute noch das Schlechte. Und weiter: in Köpenick keine Fans. Am Ostbahnhof keine Fans. Am Alexanderplatz keine Fans. Erst am Hackeschen Markt steigen drei angetrunkene junge Männer ein. "Wir sind beim Türken rausgeflogen", tun sie ihr Missgeschick kund. "Was benehmt ihr euch auch nicht", fragt eine Frau. "Warum schießen die auch ein Tor", antwortet einer der drei.

21.40 Uhr, Containerkino an der Brunnenstraße: Eine Frau reißt die Arme hoch und ruft jubelnd: "Meine Zahlen!" Das "heute journal" hat in der Halbzeitpause gerade das Ergebnis der Lottoziehung verkündet.

21.54 Uhr, "Train Bar", Schöneberg: Philipp Lahm wird im Elfmeterraum gefoult, die deutschen Fans fordern einen Elfer - vergebens. Der Schweizer Unparteiische Massimo Busacca lässt weiterspielen. Die deutschen Fans im Hinterhof der Waggon-Bar machen ihrem Ärger mit Schreien und Pfiffen Luft. Als der Lärm abflaut, findet ein Mann auf einer der hinteren Bänke seine eigene Erklärung. "Der Schiedsrichter kommt aus Kreuzberg", resümiert er.

22.01 Uhr, "Vor Wien", Skalitzer Straße: Die Übertragung ist wieder gestört. Diesmal wegen eines Stromausfalls in Wien. Statt des Spiels sehen wir Béla Réthys Grinsegesicht als Standbild. Eine Gruppe Australier zeigt sich unbeeindruckt und skandiert in einer Tour: "Lucas Podoulskey!"

22.03 Uhr, Containerkino an der Brunnenstraße: Aufatmen im Publikum. Bild und Ton aus Basel fehlen zwar weiter. Aber der Beamer projiziert jetzt den aktuellen Spielstand mittels Videotext an die Hauswand.

22.10 Uhr Frankfurter Allee: Die sonst gut gefüllte Burger-King-Filiale am U-Bahnhof Samariter Straße ist menschenleer.

22.32 Uhr, Containerkino an der Brunnenstraße: 3:2. "Wow, wow! Philipp Lahm, Fußballheld!", ruft ein älterer Mann, der sich eine Minute zuvor noch über das "Zweitligagekicke" der Deutschen aufgeregt hat.

22.35 Uhr, Fanmeile: Erleichterter Jubel nach dem letzten, verschossenen Freistoß der Türken. Ibrahim gibt einem deutschen Fan freundschaftlich die Hand - das Spiel ist besiegelt. Mit dem Abpfiff verschwinden der Türkei-Fan und seine Familie wortlos Richtung Ausgang. Auf der Fanmeile gibt es kein Halten mehr. Pogokreise bilden sich, ein bengalisches Feuer wird entzündet, das Fahnenmeer schwappt über. "Finale, oho, Finale, oho!", krakelen die entfesselten Fans.

22.36 Uhr, Müggelstraße: Ein Saxofonist gibt der deutschen Mannschaft ein einsames Ständchen auf seinem Balkon.

22.45 Uhr, Eberswalder Ecke Danziger Straße: Die Kreuzung ist von der Polizei weiträumig für Autos gesperrt. Mehr als 1.000 Fans strömen aus den Kneipen an der Kastanienallee und der Kulturbrauerei unter die Hochbahn. Hier hallen die Gesänge besonders gut.

22.50 Uhr, Ali Baba Imbiss, Danziger Straße: Der Bierverkäufer vor dem türkischen Imbiss trägt ein schwarz-rot-goldenes Stirnband. "Und das nicht erst seit dem Abpfiff", versichert er. "Weil ich hier lebe, will ich das tragen!" Ein Kroate klopft ihm tröstend auf die Schulter: "Ihr habt echt super gespielt. Wie hat euer Trainer das nur gemacht?" - "Wen meinst du?", fragt der Verkäufer, "etwa Jogi Löw?"

22.51 Uhr, Frankfurter Allee, Kinzigstraße: Zwei braungebrannte und tätowierte Schränke zünden ein Türkeifähnchen an. Als das Fähnchen brennt, werfen sie es auf die Frankfurter Allee.

22.55 Uhr, Simon-Dach-Straße, Kopernikusstraße: Im Ballermannkiez geht nichts mehr. Autos und Motorradfahrer bahnen sich ihren Weg durch torkelnde und grölende Menschenmassen.

22.57 Uhr, Danziger Straße Ecke Pappelallee: Ein Auto mit türkischen Fans hat sich in die Jubelmassen verirrt. Sehr deutsche Fans rütteln an dem Wagen, bevor die Lage eskaliert geht die Polizei dazwischen. "So sehn Verlierer aus!", rufen hämisch die Umstehenden. Ein Fettwanst mit weißem Trikot schwenkt aggressiv seine Fahne über dem Auto und ruft, "Ali, Hakan, Mustafa, fahrt zurück nach …" Ein Polizist reißt ihm die Fahne runter und sagt: "Du nervst!"

23.04 Uhr, Boxhagener Straße/Holteistraße: Eine ältere Autofahrerin schreckt hinter dem Steuer ihres Jeeps auf, als ein hysterischer Autofahrer hinter ihr seiner Freude mit einem Hupkonzert Ausdruck verleiht.

23.11: Danziger Straße Ecke Pappelallee: An der Ampel beobachten fünf Schwarze den Trubel unter der Hochbahn. "Finale!", ruft einer der fünf und klatscht grinsend die Passanten ab.

23.13 Uhr, Mehringdamm Ecke Yorckstraße: Rund 250 Fans feiern auf der Kreuzung, jedes Auto mit deutscher oder türkischer Fahne wird einzeln bejubelt.

23.14 Uhr, Kottbusser Tor: Eine jubelnde Menschenmenge belagert die Kreuzung, schwenkt deutsche und türkische Fahnen und singt dabei abwechselnd: "Deutschland! Turkiye!"

23.15 Uhr, Fanmeile, am Brandenburger Tor: Die türkischen Fans sind längst nach Hause gefahren. Zwei Mädchen mit schwarz-rot-goldenen Hawaii-Ketten starten eine Polonaise und singen "Finale, Ooooh, Finale, Ooooh".

23.16 Uhr, Kleiststraße Ecke Urania: Die Polizei hat die Strecke zum Kudamm komplett abgesperrt. Aus Richtung der Fanmeile strömen jetzt die Massen zur Korsomeile.

23.20 Uhr Breitscheidplatz: Die Ruine der Gedächtniskirche erstrahlt in einem riesigen Feuerwerk.

23.32 Uhr, Mehringdamm Ecke Yorckstraße: Die Fans, die weiterhin die Kreuzung blockieren, stürzen sich jubelnd auf den ersten Polizeiwagen, der sich mit Blaulicht vorgekämpft hat. Die Fans werfen eine Deutschlandfahne auf die Windschutzscheibe des Autos und steigen auf die hintere Stoßstange. Die Beamten fliehen.

23.34 Uhr Budapester Straße: Der Doppeldecker M 46 bleibt im Autokorso stecken. Die Hintertür ist weit offen: Eine große deutsche und türkische Fahne hängen heraus. Fans rennen zu dem Fahrzeug und bollern gegen die Scheiben. Der Fahrer guckt sich verdutzt um.

23.35, M 10 Richtung Nordbahnhof: Eine junge Frau in Deutschlandtrikot guckt aus dem Fenster und beobachtet den Trubel auf der Warschauer Straße. Ihr Sitznachbar kommentiert: "Also, das ist Integration!"

23.38 Uhr, Mehringdamm Ecke Yorckstraße: Vier Polizeiwannen erscheinen auf der von den Fans blockierten Kreuzung. Beamte in voller Kampfmontur steigen aus und versuchen, die Fans auf den Bürgersteig zu bitten, werden aber niedergejubelt und ignoriert.

23.40 Uhr, Fanmeile, Ausgang Süd: Ein Mann schiebt einen überladenen Einkaufswagen mit Säcken voller Flaschen. Ein Junge steckt seine Bierflasche dazu. "Hier, noch 8 Cent!" - "Danke". Die Ausbeute des Flaschensammlers nach sechs Stunden: "Wenn ich Glück hab: 100 Euro."

23.50 Uhr: Tauentzien- Ecke Rankestraße: Inmitten der feiernden Menge klettern vier bis fünf Gestalten auf das Runddach der neuen Gedächtniskirche. Fünf türkische Berliner beobachten das Geschehen: "Wir durften nicht auf die Dächer. Die Polizei vernachlässigt uns." Eigentlich meint er benachteiligt. Irrtum. Ein paar Minuten später macht sich der Trupp einer Einsatzhundertschaft auf den Weg, um den Spuck zu beenden. Allerdings ist die Bemühung nicht von langer Dauer. Schon haben die nächsten Fans das Dach erklettert.

23.55 Uhr, Mehringdamm Ecke Yorckstraße: An der Kreuzung, die immer noch von Fans blockiert ist, erscheinen rund 20 Polizeiwannen und ein Lautsprecherwagen: "Liebe Fußballfans! Hier spricht die Polizei! Wir freuen uns, dass Sie feiern, und das ist auch okay so. Um den reibungslosen Fahrzeugverkehr zu gewährleisten, möchten wir Sie jedoch bitten, den Kreuzungsbereich in Richtung Fußweg zu verlassen." Nachdem die Durchsage dreimal ignoriert wird, kommen die Beamten in kleinen Trupps und bitten die Fans persönlich auf den Bürgersteig. Um 0.05 Uhr ist die Kreuzung wieder frei.

00.05 Uhr, Schönhauser Allee, Kastanienallee: Allgemeines Hinsetzen, allgemeines Aufspringen, allgemeines "Schalalalala!", La Ola unter der Hochbahn. Auf der Kastanienallee sitzt ein gelangweilter Tramfahrer in seiner Bahn. Er wird wohl noch ewig warten müssen, bis er über die Kreuzung ins Depot kommt.

0.10 Uhr, Holocaust-Denkmal, Behrenstraße: Zwei Polizisten sitzen auf einem Stein und essen Butterbrot. "Ist ja alles friedlich", sagt der eine gelassen. Sie rechnen nicht damit, dass es heute Abend noch zu Auseinandersetzungen kommt. Trotzdem ist noch kein Dienstende. "Keine Ahnung, bis wann wir hier sein müssen. Das ist sozusagen ein Dienst mit Open End", sagt der Polizist und kaut an seiner Stulle. Tausende Fans strömen vorbei. Plastikbecher, Glasscherben und Zigarettenkippen bedecken den Asphalt.

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